zum Textanfang springen

Catalinas Hoffnung

Der Pfad wurde steiler, und der Wanderer machte eine Verschnaufpause. Trotz der frühen Stunde war es unangenehm heiß, und der lückige Pinienwald bot nur wenig Schatten und Abkühlung. Die Luft war vom schwirrenden Zirpen der Zikaden erfüllt, es duftete nach Harz und Wacholder. Für einen Moment brach eine leichte Brise die drückende Hitze und brachte die Wipfel der Bäume zum Rauschen. Der junge Mann atmete erleichtert auf. Doch so plötzlich, wie er gekommen war, ließ der Wind auch wieder nach. Jaume, so sein Name, wischte sich den Schweiß aus der Stirn und setzte seinen Aufstieg fort. Bis zu den Feldern in den Bergen hatte er noch ein gutes Stück vor sich.

Im Gesträuch raschelte etwas. Da war sie wieder! Vor ihm auf dem Weg stand die Katze und blickte ihn mit großen, goldenen Augen an. Sie war schwarz, ein stattliches aber feingliedriges, geschmeidiges Tier. Jaume hielt inne. Seit Tagen schon schien sie ihn zu begleiten. Nicht, daß er gesehen hätte, wie sie ihm folgte. Aber immer wieder, wenn er unterwegs war, tauchte sie plötzlich vor ihm, neben ihm oder hinter ihm auf, stand sie einfach da und beobachtete ihn regungslos, um unvermittelt wieder im Gebüsch zu verschwinden. Jaume war nicht in nennenswertem Maße abergläubisch, aber diese seltsame Katze wurde ihm langsam unheimlich.

Diesmal wich sie nicht von der Stelle. Minutenlang standen sich die beiden reglos gegenüber. Dann trat sie zur Seite, wandte sich einer schmalen Spur im Gesträuch zu und schaute wieder hoch zu Jaume. 'Seltsam', dachte dieser und wollte weitergehen. Ein wütendes Fauchen ließ ihn erschrocken anhalten. Noch immer war das merkwürdige Wesen da, und ein Nicken des Kopfes schien in die Richtung jenes Wildwechsels zu weisen. Jaume ließ den Blick über das Gestrüpp schweifen, versuchte auszumachen, wohin dieser Pfad, wenn es denn einer war, wohl führte. Doch er konnte nichts erkennen, und schließlich setzte er seinen Weg fort.

Die Katze hatte den Wanderer schon viel länger beobachtet, als dieser ahnte. Sie kannte seine Wege und seine Gewohnheiten, und sie war zu dem Schluß gekommen, daß er der richtige war, um ihr zu helfen. Nun mußte sie ihn auf sich aufmerksam machen, ihn dazu bringen, ihr zu folgen. Aber das erwies sich als schwieriger, als sie gedacht hatte. Sollte sie sich doch in ihm getäuscht haben? Sie würde nun wohl zu anderen Mitteln greifen müssen. Hoffentlich würde sie ihn nicht erschrecken.

Immer wieder hatte sich Jaume umgedreht, doch zu seiner Erleichterung folgte ihm das Tier nicht mehr. Er verbrachte den Tag mit Feldarbeit, leitete Wasser aus der kleinen Zisterne in das Rinnensystem der Gemüsebeete, besserte eine der alten Mauern aus, welche hier am Hang die rote Erde am Abrutschen hinderten, und hielt Großmutters Hütte instand. Seit die rüstige alte Frau vor fast einem Jahr überraschend gestorben war, kümmerte er sich um den abgelegenen kleinen Hof. Jaume war auf dem Dorf aufgewachsen, und er mochte die Arbeit unter freiem Himmel. So konnte er es verschmerzen, nicht in die Stadt gegangen zu sein. Dort, so hatte er gehofft, würde er Arbeit finden und genug Geld verdienen, um eines Tages eine Familie gründen zu können. Zwar waren ihm manchmal Zweifel gekommen, ob er, der die Einsamkeit in den Bergen mochte, in der Geschäftigkeit der Stadt überhaupt leben könnte, aber er hatte sie immer beiseite geschoben, denn auch die Kleinlichkeiten des Dorfes gefielen ihm nicht. Doch die Zeiten hatten sich ohnehin geändert, der Bürgerkrieg war ausgebrochen, es wurde gemordet und geplündert. Hier, in diesem bergigen Küstenstreifen abseits der großen Straßen, war das Leben sicherer, noch gab es hier keine Kämpfe. Hoffentlich würde es so bleiben.

Die Sonne stand schon tief, als sich Jaume an den Abstieg machte. Würde er wieder der Katze begegnen? Tatsächlich, an der selben Stelle wie am Morgen stellte sie sich ihm in den Weg. Jaume blieb in respektvollem Abstand stehen. Diesmal aber versuchte sie nicht, ihn aufzuhalten. Satt dessen verschwand sie wie gewohnt im Gebüsch. Schon wollte der Wanderer weitergehen, da bemerkte er die junge Frau, die zwischen den Wacholderbüschen stand. War er schon so auf diese blöde Katze fixiert, daß er ein so schönes Mädchen übersah? Jaume grüßte sie, doch sie blieb reglos. Sie war schlank, mit langem, schwarzen Haar und dunklen Augen. Er hatte sie nie zuvor gesehen, obwohl er doch jeden in der Umgebung kannte. Doch sie trug auch nicht die hier übliche grauschwarze Tracht, sondern statt dessen einen ärmlichen Kittel undefinierbarer Farbe. Sie konnte nicht von hier sein.

Lange standen sie sich gegenüber, Jaume und die seltsame Schönheit, bis sie sich endlich bewegte. War es ein Lächeln, daß über ihr Gesicht huschte? Auf jeden Fall hob sie einen Arm, und sie wies in Richtung jenes Wildpfades, auf den die Katze ihn am Morgen aufmerksam gemacht hatte. Die Katze! Ob sie ihr gehörte? War sie noch in der Nähe? Jaume blickte sich für einen Augenblick suchend um, doch sie war nirgends zu entdecken. Als er wieder aufsah, war die Frau verschwunden.

Er rief nach ihr, versuchte, ihr zu folgen, aber er konnte keine Spur mehr von ihr entdecken. Es war, als habe es sie nie gegeben. Nur die Katze hockte auf einem Felsen, einen Steinwurf von Jaume entfernt, und beobachtete ihn mit unergründlichem Blick. Eine Weile wartete Jaume noch, mehr aus Unschlüssigkeit denn aus Hoffnung, dann ging er weiter. Hatten seine Vorstellungskraft und die Hitze ihm einen Streich gespielt? Oder hatte er gar ein Gespenst gesehen? Doch daran glaubte er ja nicht.

In dieser Nacht folgte ihm das seltsame Mädchen in seine Träume, und sie beschäftigte ihn weiter, als er wach war.

Eigentlich hatte Jaume am nächsten Tag gar nichts in den Bergen zu erledigen. Dennoch suchte und fand er einen Grund, wieder hinaufzusteigen. Daß er ihr am selben Ort begegnete, wunderte ihn kaum mehr. Wäre sie nicht zur Stelle gewesen, es hätte ihn überrascht, ja sogar enttäuscht.

Sie stand zwischen den Wacholderbüschen abseits des Weges, reglos wie am Vortag. Jaume folgte ihr diesmal ohne zögern, denn er wollte sie nicht noch einmal verlieren. Das dornige Gestrüpp zerstach seine Beine und riß an seiner Hose, aber er beachtete es nicht. Er hatte sie fast erreicht, als sie wie zuvor den rechten Arm hob, als ob sie auf etwas zeigen wollte. Unwillkürlich folgte Jaumes Blick ihrem Hinweis, doch da schien nichts zu sein, außer vielleicht einer kleinen Lücke im Gesträuch, die den Fortgang des Pfades andeuten mochte. Das geheimnisvolle Mädchen indessen war verschwunden.

Fassungslos blieb Jaume stehen. Nur Sekunden hatte er sie aus den Augen verloren, doch wieder war keine Spur mehr von ihr zu entdecken. Er rannte die letzten Meter, um hinter den Busch zu schauen, hinter dem sie gestanden hatte. Sie war nicht da. Er rief sie, aber sie gab keine Antwort. Wie konnte sie sich in diesem lockeren Wald, dessen dünne Stämme keinen Schutz boten, überhaupt verstecken?

Ernüchtert, ja mit hängenden Schultern wandte sich Jaume zum Gehen. Noch einmal blickte er sich ohne echte Hoffnung um, und da war sie wieder. Als wäre sie schon immer dort gewesen, stand sie statuengleich ein gutes Stück weiter.

In diese Richtung hatte sie zuvor gewiesen. Er sollte ihr also folgen, schloß Jaume und ging auf sie zu. Kurz bevor er sie erreichte, tauchte sie an einem anderen Platz wieder auf, und das Spiel wiederholte sich. Wenn Jaume nicht selbst die Augen abwenden mußte, um auf den Weg vor seinen Füßen zu achten, gelang es ihr jedesmal, ihn für einen entscheidenden Moment abzulenken. Doch Jaume war längst überzeugt, daß sie nicht einfach flink und geschickt war. Es ging nicht mit rechten Dingen zu, dessen war er sich sicher, und das steigerte seine Neugierde nur weiter. Einen Reim darauf konnte er sich allerdings nicht machen. Konnte sie zaubern, war sie ein Gespenst? Jaume entschied sich, letzteres anzunehmen, denn sie tauchte nicht nur für immer kürzere Zeiträume auf, er hatte auch manchmal den Eindruck, als begänne sie durchsichtig zu werden.

Schließlich erreichten sie eine Bergkuppe. Seine geheimnisvolle Führerin blieb verschwunden, und Jaume stieg das letzte Stück alleine nach oben. Auf einem kreisrunden Fleck von drei oder vier Schritten Weite machte hier selbst das niedrige Dornengestrüpp kahlem Geröll Platz, und in der Mitte lag ein großer, runder Stein. Jedes Grün ringsum schien sorgsam ausgerupft zu sein.

Jaume blickte sich um. Er stand auf der höchsten Erhebung weit und breit. Eine erfrischende Brise vom Meer machte es hier erfreulich angenehm. Das allgegenwärtige Zirpen war leiser als im Tal. Er sah das Meer, vertraute Bergsilhouetten und das Dorf weit unter ihm. Hier war er also! Auch wenn er selbst nie hier hinaufgestiegen war, kannte er den Platz doch aus Erzählungen. Die Alten mieden ihn, sagten, daß er, wenn schon nicht böse, doch zumindest unchristlich sei. Das paßte immerhin zu seinem Gespenst.

Die geheimnisvolle Frau stand hinter ihm, und zum ersten Mal konnte Jaume sie aus der Nähe betrachten. Sie war tatsächlich leicht durchscheinend und unscharf. Ihre Augen waren groß und dunkel, die Wangenknochen hoch. Doch ihr schönes, sanftes Gesicht war reglos, und ihr langes, schwarzes Haar folgte nicht den Launen des Windes. Jaumes Blick wanderte an ihr hinab. Der graubraune Kittel verbarg ihren Körper, und nach unten hin löste sich ihre Gestalt auf. Wo ihre Füße hätten sein sollen, hockte die schwarze Katze und starrte Jaume mit ihren goldenen Augen an.

Noch einmal hob die Erscheinung den Arm, wies in Richtung Sonne, schien eine weitere Geste machen zu wollen, eine kreisförmige Bewegung vielleicht, doch sie verblaßte und verschwand, bevor sie ihr Zeichen beenden konnte. Nur die Katze blieb zurück, und eine Weile sahen sie und Jaume sich unbewegt an. Dann miaute das Tier zufrieden, wandte sich ab und schritt gemächlich ins Dickicht. Jaume war alleine.

Catalina war von der Anstrengung der Magie entkräftet, aber glücklich. Endlich war es ihr gelungen, den jungen Mann zum heiligen Stein zu bringen, und er hatte offensichtlich nicht einmal Angst. Sie sprang vor Freude in die Luft, wälzte sich übermütig und rollte sich schließlich, als sie ihr Versteck erreicht hatte, zufrieden ein und schnurrte. Nach all den Jahrhunderten neigte sich die Zeit des Wartens dem Ende entgegen.

Alte Erinnerungen drängten nach oben. Catalina dachte an Großmutter Maria, von der sie damals in die Anfänge der Magie eingeführt worden war. Sie versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen, aber es war vergeblich, all das war einfach zu lange her. Großmutter war es gewesen, die Catalina schon früh mit zu den heiligen Plätzen genommen hatte, wenn sie der Göttin Opfer darbrachte. Eigentlich war das alte Wissen in der Familie immer von Mutter zu Tochter weitergegeben worden, aber Catalinas Mutter war Christin gewesen und hatte diese Tradition unterbrochen. Als sie sechzehn Jahre alt war, hatte Catalina sich entschlossen, Großmutters Weg zu folgen, und Maria hatte sie gegen den Willen ihrer Tochter in die Lehre genommen.

Einst hatten die Frauen aus Catalinas Familie der großen Muttergöttin gedient, so Großmutters Bericht, und nachdem die Christen gekommen waren, hatte man die Gebräuche im Geheimen weiter gepflegt. Doch das war lange her, im Laufe der Jahrhunderte war viel von der alten Weisheit in Vergessenheit geraten, und schließlich waren aus den Priesterinnen von einst Zauberinnen und Heilerinnen geworden. Catalina war die letzte dieser Linie, und Großmutter hatte alle Hoffnung in sie gesetzt.

Es war einige Jahre später gewesen, als der Inquisitor ins Dorf gekommen war. Eine blutige Spur hatte seinen Weg durch die Umgebung markiert und die beiden das Schlimmste fürchten lassen. Alles, was einen Verdacht auf sie hätte lenken können, war im Wald versteckt worden. Was es gewesen war, das den Hexenjäger auf ihre Spur gebracht hatte, sollte Catalina nie herausfinden. Vielleicht war der plötzlich vorgegebene Eifer beim Beten aufgefallen, vielleicht waren sie denunziert worden, oder sie war ins Blickfeld der Neugier gerückt, weil sie als schöne Frau mit vierundzwanzig Jahren noch immer keinen Mann hatte. Jedenfalls war gegen Catalina wie auch gegen ihre Mutter und ihre Großmutter Klage wegen Ketzerei, Gotteslästerung, Teufelsanbetung und Hexerei erhoben worden.

War sie noch wach oder träumte sie schon? Die Bilder wurden immer intensiver, immer lebendiger. Sie hörte das Hämmern an der Tür, die Rufe der Männer. Dann splitterte auch schon das Holz, und sie drängte herein. Nur Catalina war es gelungen zu fliehen.

Aber die Schergen der Kirche waren ihr dicht auf den Fersen. Sie rannte durch den Wald, stolperte über Wurzeln und riß sich die Beine an Dornen auf. Wohin lief sie eigentlich? Sie wußte es nicht mehr. Einfach weg, weiter und immer weiter! Aber lange würde sie nicht mehr durchhalten. Ob sie sich in der alten Hütte verstecken konnte? Auch dort würde man sie finden, sie umzingeln und ihr jeden Ausweg abschneiden. Sie sah sich um und fiel über einen Stein. Alles drehte sich um sie, aus der Rinde der Bäume schienen Gesichter sie anzustarren und auszulachen. Geister helft mir! Aber sie lachten und lachten und lachten. Immer schneller lief sie bergauf. War sie überhaupt aufgestanden? Schon schien sie zu fliegen. Und dann kam die Waldhütte auf sie zu. Nein, das war der falsche Weg, eine Falle, das sichere Verderben! Und doch konnte sie sich nicht abwenden, riß die Tür auf und flog hinein. Wände! Warum war sie hier? Gefangen in einer dunklen Höhle, und gleich würde man sie holen! Waren das die Stimmen der Verfolger oder das Gelächter der Gespenster? Sie blickte sich um, drehte sich, immer rasender, bis ihr schwindelig wurde. Oder war es die Hütte, die sich drehte? Dort, das Loch in der Wand, dort konnte sie entkommen! Doch es war viel zu klein, der verheißungsvolle Lichtstrahl spottete ihrer. Nur eine Katze könnte dort hinausklettern. Nein, nicht einmal eine Katze. Zu ihren Füßen lag ein grinsender Schädel mit großen, leeren Augenhöhlen. Sie wollte Schreien, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Eine Katze, nur eine tote Katze. Wäre sie doch nur eine Katze! Worte dämmerten in ihrem Verstand. Was bedeuteten sie? Mechanisch hob sie den Tierschädel auf und hielt ihn mit ausgestreckten Armen vor sich. Die Worte sprachen sich aus ihrem Mund. Woher kamen sie? Großmutters Pergamente, ja, da hatte Catalina sie gelesen. Wie lauteten sie? Alles hallte von den Wänden wider, der Chor der Geister wiederholte jede der gestotterten Formeln. Ihre Krallen verkrampften sich um den Knochen, drangen durch den dünnen Schädel und ließen ihn zerspringen. Warum Krallen? Sollte sie nicht Finger haben? Weiter sprudelten die Worte hervor, die sie vor so langer Zeit gelesen hatte und die nun letzte Hoffnung waren. Ihr schwindelte, und sie stürzte auf den Boden der riesigen Halle. Sie starrte auf ihre Pfoten, die eben noch Hände waren und versuchte zu begreifen, was mit ihr geschah. Ein gellender Schrei zerriß ihre Ohren. War es ihr eigener? Sie strampelte verzweifelt, um die Decken abzustreifen, die sie wie Fesseln einhüllten. Ihre Kleider? Aber sie waren riesig. Ein Krachen und Splittern erfüllte die Hütte. Die Tür! Mit einem gewagten Sprung erreichte sie das Loch und schlüpfte in die Freiheit. Und wieder Schreie! Wieviel Zeit war vergangen? Feuer! Sie war im Dorf, sie sah die Scheiterhaufen, doch sie konnte sich nicht abwenden, sie mußte zusehen, wie die beiden Körper verbrannten. Sie konnte nichts tun. Und sie schrien und schrien und schrien!

Die Katze Catalina erwachte mit Herzklopfen. Schon lange hatte sie nicht mehr von jenen schrecklichen Tagen geträumt. Hilflos hatte sie mit angesehen, wie man ihre Mutter und ihre Großmutter als Hexen den Flammen übergeben hatte. Wie sie sich zurückverwandeln konnte, das hatte sie nicht gelernt. Nie hatte sie diesem alten, fast vergessenen Zauber Bedeutung beigemessen, geschweige denn geahnt, daß sie ihn je selbst anwenden müßte. So hatte sie sich auch nur unvollständig an die Formel und die Rituale erinnert, und sie hatte sie nicht fertig aussprechen können. Die Magie war vor dem Ende zum Stillstand gekommen, und vielleicht lag es daran, daß sie sich seither nicht mehr verändert hatte. In all den Jahrhunderten war sie kein bißchen gealtert.

Aber jetzt hatte Catalina endlich einen Weg gefunden, ihre menschliche Gestalt wiederzuerlangen.

Es dauerte eine Weile, bis Jaume den Abstieg begann. Er war verwirrt, und viele Dinge gingen ihm durch den Kopf. Eigentlich war er nicht wirklich überrascht, daß sie ein Gespenst war - zu vieles hatte darauf hingedeutet. Aber hatte er es wirklich erwartet?

Bis jetzt hatte er nicht an solchen Spuk geglaubt. Und was bedeutete überhaupt 'Gespenst'? Es war ein Wort, das Wissen vortäuschte, indem es dem Ding einen Namen gab. Was waren Geister? War sie längst tot, oder war sie völlig andersartige Wesen? Welches war ihre wahre Gestalt? Schade, daß sie nicht einfach ein Mädchen war. Er hätte sich sofort in sie verliebt.

Für einen Moment überlegte sich Jaume, ob er den Pfarrer um Rat fragen sollte. Wenn jemand etwas von übernatürlichen Dingen verstand, dann bestimmt er. Andererseits könnte er eine Antwort geben, die dem junge Mann nicht gefallen würde. Aber Pater Viçens stand auch auf Seiten der Faschisten, und mit denen wollte Jaume nichts zu tun haben. Es war besser, wenn er dieses Erlebnis für sich behielt.

Und was wollte die Katzenfrau von ihm? Solche Phantome waren gefährlich und böse, so erzählten die alten, abergläubischen Frauen. Wollte sie ihn ins Verderben locken? Unfug, sie hatte ihm nichts getan. Vielleicht hatte ihr nur die Gelegenheit dazu gefehlt? Ein alberner Gedanke. Aber was taten Wesen wie sie sonst? Auf Schätze hinweisen? Das war noch absurder. Jaumes Spekulationen wurden immer wilder, und schließlich fiel ihm nichts besseres ein, als zu singen, um sich abzulenken. Doch das Bild der Katzenfrau ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie war ihm nicht übel gesonnen, dessen war sich Jaume sicher, auch wenn er nicht zu sagen vermochte, woher er diese Überzeugung nahm.

Als der junge Wanderer endlich die Straße erreichte, hielt er inne. Da waren Reifenspuren im Staub. Ein großes Automobil, sicher ein Lastwagen, mußte hier gefahren sein. Motorfahrzeuge kamen nur selten in diese abgelegene Gegend, und Jaume ahnte nichts Gutes. Er beschleunigte seine Schritte und eilte in banger Erwartung dem Dorf entgegen.

Die vertrauten Geräusche, das Gackern der Hühner, das Quaken der Frösche in den Zisternen und das Lärmen der Kinder beruhigten ihn, noch bevor er die ersten Häuser erreichte. Es war nur ein Trupp von Soldaten der Republik gewesen, so erfuhr er von der alten Maria, und sie waren weitergefahren, ohne anzuhalten. Jaume atmete auf, aber es blieb ein ungutes Gefühl zurück. Würden die Kämpfe nun auch hierher kommen?

Beim Abendessen blieb Jaume still und nachdenklich. Er solle sich keine Sorgen machen, alles würde gut werden, versicherte ihm seine Mutter. Aber es waren längst nicht mehr die Bürgerkriegsparteien, die ihn beschäftigten. Im Geiste war er wieder bei dem geheimnisvollen Katzenmädchen. In den Erinnerungen verschmolz ihr Gesicht mit dem des Tieres. Ja, ihre Züge hatten etwas katzenhaftes gehabt. Als Frau war sie wunderschön. War etwas trauriges in ihrem Blick gewesen, sollte er ihr vielleicht helfen? Er mußte sie wiedersehen. Das war es gewesen, was sie ihm bedeuten wollte! Sie hatte auf die Sonne gezeigt und einen Kreis beschrieben. Morgen!

Im Traum stieg Jaume wieder und wieder hinauf in die Berge. Mal folgte er ihr, dann wieder suchte er sie verzweifelt. Immer aber blieb sie ihm fern und unerreichbar. Als er erwachte, dauerte es eine Weile, bis er die Orientierung wiederfand. Er war Zuhause, überzeugte er sich, und er würde sie nicht verlieren.

Am Morgen war das Gerücht angekommen, daß die Kommunisten einige Ortschaften weiter ihre Flagge gehißt hätten. Obgleich niemand zu sagen wußte, um welches Dorf es sich handelt, waren sich doch alle einig in der Befürchtung, daß der Bürgerkrieg nun nicht mehr weit war. Jaumes Mutter bedrängte ihn, nicht fort zu gehen, aber er ließ sich nicht beirren. Er mußte das Gespenst wiedertreffen.

Auch Catalina hatte eine unruhige Nacht verbracht. Erinnerungen mischten sich in die ungeduldige Erwartung des Kommenden. Würde es diesmal gelingen, oder sollten ihre Hoffnungen so kläglich scheitern wie beim letzten Mal? Aber heute war alles anders.

Damals, das war einige Jahrzehnte nach ihrer Verwandlung. So lange hatte es gedauert, bis es Catalina gelungen war, die Schrecken jener Tage der Hexenjagd weit genug zurückzudrängen, um einen neuen Anlauf als Mensch zu wagen.

Sie hatte versucht, die im Wald versteckten alten Pergamente mit den Zauberformeln wiederzufinden, und zu diesem Zweck eine Bäuerin auf sich aufmerksam gemacht. Der war es gelungen, den Stein beiseite zu wälzen, an dem die Katze so verzweifelt gescharrt hatte. Catalina konnte sich noch gut an ihr hilfloses Entsetzen erinnern, denn nur ein paar verfaulte und zernagte Fetzen waren übriggeblieben. Sollte sie für immer ein Tier bleiben müssen? Damit konnte Catalina sich nicht abfinden, es mußte eine Möglichkeit geben. Doch es dauerte noch einmal viele Jahre, bis sie diesen Weg zu erahnen begann.

Das Leben als Katze war in dieser Landschaft nicht schwer. Nahrung fand sie das ganze Jahr hindurch zur Genüge, nachdem sie geschickt genug im Jagen geworden war. Nur anfangs hatte Catalina gehungert, bis sie sich überwinden konnte, rohe Mäuse und Eidechsen zu verspeisen. Feinde hatte sie nur wenige. Mit Krallen, Zähnen und Geschicklichkeit, den Waffen einer Katze, und ihrer menschlichen Intelligenz schlug sie Hunde und sogar Wölfe in die Flucht. Doch meist war das gar nicht notwendig, denn seit sie gelernt hatte, ihre neuen Sinne zu nutzen und sich ebenso unauffällig wie lautlos zu bewegen, wurde sie kaum noch von anderen Jägern entdeckt. Nur einmal hatte ein Adler sie zu schlagen versucht, und sie war dem überraschenden Angriff nur mit knapper Not entkommen. Im Laufe der Jahrhunderte aber war die Katzenfrau ein perfektes Raubtier geworden, und es gab wenig, das sie noch fürchten mußte.

Wirklich lästig waren nur die anderen Katzen. Vor Wildkatzen konnte selbst Catalina sich nicht verbergen, sie verteidigten ihre Reviere erbittert, und oft dauerte es lange, sie loszuwerden. Am schlimmsten jedoch waren streunende Kater. Monat für Monat mußte sie sich ihrer erwehren, und sie kamen immer aufs neue. Sie in die Flucht zu schlagen, brachte nur wenig, und manchen mußte Catalina schließlich sogar töten, um ihre Ruhe zu finden.

Trotzdem hatte sie ihre Chance zur Erlösung einem dieser lüsternen Männchen zu verdanken. Es war ein ebenso stattlicher wie hartnäckiger Kater, der sie wieder und wieder belästigte. Er war zu stark, sie konnte ihn verletzen und vertreiben, aber es gelang ihr nicht, sich seiner dauerhaft zu entledigen. So kam es, daß sich Catalina an einen Zauber erinnerte, den sie schon einmal gebraucht hatte, um einer Freundin gegen ihren ewig wollüstigen Ehemann beizustehen. Sie konnte ihn nicht aussprechen, aber in Gedanken schleuderte sie ihn nun mit all ihrer Wut gegen ihren Bedränger. Daß dieser plötzlich laut aufjaulte und sich vor Schmerzen krümmte, damit hatte sie nicht gerechnet. Was war geschehen? Catalina sah dem flüchtenden Tier verwundert nach. Wie konnte die Magie wirken, wenn die Formel nicht gesprochen wurde? Doch sie hatte ihn zweifellos seiner Männlichkeit beraubt!

Von da an begann Catalina zu begreifen, daß Formeln und Rituale nur eine Kraft kanalisierten, die aus ihr selbst stammte, und daß sie auch als Katze lernen konnte, diese Macht zu nutzen. Es sollte noch ein langer, anstrengender Weg werden, bis sie diese Fähigkeiten bewußt steuern konnte. Aber sie hatte ihre Magie wiedererlangt, und das machte nicht nur ihr Leben leichter, sondern nährte auch die Hoffnung, daß sie eines Tages ihre menschliche Gestalt zurückerhalten würde.

Sie übte von da an ausdauernd, die Energie ihres Geistes zu lenken, Dinge zu bewegen und Trugbilder erscheinen zu lassen. Bald beherrschte sie wieder all das, was sie als Mensch gelernt hatte, und dann mehr als je zuvor. Nur eins gelang ihr nicht: ihre eigene Verwandlung. Dieses Kunststück war zu groß, um es ohne die Hilfe des richtigen Spruchs zu vollbringen. Ihre Kraft alleine reichte dafür nicht aus, sie brauchte Unterstützung.

Aber Catalina hatte es nicht eilig. Sie war glücklich, denn sie hatte sich nicht nur an ihr Dasein als Katze gewöhnt, sie genoß es längst auch. So frei und ungebunden, so sehr Herrin ihrer selbst und ihrer Umgebung war sie nie zuvor gewesen. Das Leben war zu schön, als daß sie es jetzt schon gegen die Fesseln der menschlichen Gesellschaft hätte eintauschen wollen. Ihre Zeit würde kommen.

Catalina beobachtete die Menschen. Ihre Scheu vor ihnen und ihre Vorsicht hatte sie verloren, denn sie wußte, daß sie nichts mehr zu befürchten hatte. Generationen vergingen, Kriege wurden begonnen und verloren, Hungersnöte und Seuchen gingen vorüber, das Leben in den Dörfern aber blieb gleich. Irgendwann bemerkte die stille Zuschauerin, daß die Bevölkerung schneller wuchs, als sie es zuvor getan hatte, und daß es den Leuten besser zu gehen schien als bisher. Sie sprachen von Dingen, die Catalina nicht mehr verstand, und selbst arme Kinder gingen nun zur Schule. Dann fuhr der erste pferdelose Wagen ratternd und stinkend über die staubigen Landstraßen in Catalinas Revier, Schiffe fuhren ohne Segel, und eine fliegende Maschine glitt lärmend und doch ohne Flügelschlag über die Wälder. Die Menschheit schien sich aus den ausgetretenen Bahnen der Vergangenheit zu befreien. Die Zeit war gekommen.

Der junge Mann, der immer wieder über den schmalen Pfad in die Berge aufstieg, war der Katze schon seit einer Weile aufgefallen. Er war schlank und nicht besonders groß, doch er gehörte zu jenen Menschen, die ein Stück zu lang für ihre Bewegungen zu sein scheinen und deshalb noch größer wirken, als sie eigentlich sind. Seine dunklen, schwer zu bändigenden Haare umrahmten ein Gesicht, das immer entweder fröhlich oder nachdenklich aussah. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Catalina ihm lange nachgeschaut. Schade, daß sie keine Frau war!

Sie sah ihn immer wieder, beobachtete ihn und folgte ihm einige Male sogar bis ins Dorf. Auch hier blieb er still und freundlich, gehörte nicht zu den lauten, rauflustigen Dorfburschen, die Catalina schon immer verabscheut hatte. Sein Name war Jaume, so fand sie bald heraus. Schließlich wurde sie immer sicherer, daß er der war, mit dessen Hilfe sie wieder ein Mensch werden konnte.

Nun war der Tag gekommen, an dem sie es versuchen wollte. Mit seiner Kraft und der Macht des heiligen Berges mußte die Verwandlung gelingen. Catalina erwachte früh und begab sich auf die Jagd. Sie wollte sich nicht durch einen vollen Magen ablenken, aber sie brauchte ein Opfer, um den Beistand der Göttin zu erbitten. Die erbeutete Maus war stattlich, ein gutes Zeichen. Auf einem flachen Stein in der Nähe ihres Schlafplatzes legte Catalina das Tier ab und ließ es durch ihre Magie in Flammen aufgehen. Als der Wind die Asche angenommen hatte, begann sie den Aufstieg. Würde er kommen?

 Seite 1weiter

Dieser Text kann auch als PDF-Dokument (485 KB) heruntergeladen werden.

Dieser Text ist wegen seiner Länge auf mehrere Seiten verteilt. Wenn Sie ihn ausdrucken möchten, können Sie ihn auf einer Seite ausgeben lassen.

Creative Commons License
This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 License .
Sie dürfen diesen Text privat herunterladen, ausdrucken, weitergeben und weiterverbreiten, so lange sie ihn nicht verändern und die Urheber- und Lizenzangabe beibehalten. Sollten Sie den Text an anderer Stelle veröffentlichen, geben sie mir bitte Bescheid. Veränderungen des Textes sind untersagt.
Jede kommerzielle Nutzung bedarf der schriftlichen Zustimmung des Urhebers Dennis Merbach.