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Die Spieluhr des Meister Natas

Wütend verließ Falk vom Kühlensee die Burg Eberstein. So war er noch nie beleidigt worden! Eine Woche lang war er hier zu Gast gewesen, um für die Herren von Eberstein zu Fernwinkel zu spielen, dichten und zu singen. Gewiß, Falk gehörte nicht zu den Großen seiner Kunst, doch schlecht war er nicht gewesen. Hätte man ihm sonst so lebhaft applaudiert, ihn so gut bewirtet, und hätten die Damen ihm sonst so geschmeichelt? Er hatte sein Bestes gegeben! Doch dann war dieser Geck Walther von der Blumenwiese eingetroffen, um ihm die Schau zu stehlen. Nicht nur, daß er, ungehörig genug, seinem Kollegen so direkt und ungefragt ins Handwerk pfuschte. Er war einfach singend und musizierend auf den Burghof gekommen, hatte sich vor den herbeigeeilten Falk gestellt und gesagt: „Du kannst gehen, Junge. Hier ist kein Bedarf mehr für dich.“

So hatte Falk seinen Beutel gepackt, seine Harfe geschultert und das Feld geräumt. Gegen den großen Barden von der Blumenwiese konnte er nicht bestehen, das wußte er.

Der erfolglose Spielmann war noch nicht lange gewandert, die Burg war gerade außer Sichtweite, als er angesprochen wurde: „So wartet doch, junger Freund!“

Falk wandte sich um. Ein älterer, schwarz gewandeter Herr versuchte, ihn einzuholen. Er hinkte ein wenig, und der Musikant hielt inne, um ihn herankommen zu lassen.

„Was kann ich für Euch tun?“ wollte Falk wissen.

„Neinneinnein“, entgegnete der Alte, „nicht Ihr für mich. Ich möchte etwas für Euch tun, mein Freund. Ich bin Meister Natas, und mein Handwerk ist der Bau von Musikinstrumenten.“

„Ich möchte keines kaufen", entgegnete der noch immer schlecht gelaunte Falk barsch.

„Aber nicht doch!“ Meister Natas schüttelte den Kopf. „Ich habe Euer Spiel auf Burg Eberstein gehört, und ich bin Zeuge der frechen Behandlung geworden, die man Euch hat angedeien lassen. Deshalb möchte ich Euch einen Gefallen tun.“

Falk musterte den Mann aufmerksam. Sein Gesicht schien freundlich und ehrlich zu sein, doch so sehr sich Falk auch bemühte, er konnte sich nicht erinnern, Meister Natas schon einmal gesehen zu haben. Auf der Landstraße mußte man vorsichtig sein, und der Barde hatte kein gutes Gefühl bei seinem Gegenüber.

So blieb er auf Abstand, als der Alte seinen Beutel öffnete und eine kleine hölzerne Schachtel herausholte.

„Kommt ruhig heran, schaut hinein!“

Falk nahm die Kiste und öffnete sie. Fast hätte er sie vor Schreck wieder fallen gelassen, denn aus ihrem Inneren drang Musik. Woher sie kam, das konnte er nicht erkennen, er fand nur einige kleine, metallene Rädchen, die sich langsam drehten, dünne Röhrchen und eine leere, gläserne Phiole, die von eisernen Klammern gehalten wurde. Im Deckel war ein Spiegel eingelassen.

„Man nennt es ‚Spieldose‘, guter Freund", erklärte Natas. „Es ist ein mechanisches Spielzeug, ein wahres Kunstwerk, das ich selbst geschaffen habe. Und es ist die einzige, die bislang existiert. Ihr könnt sie haben.“

„Ich habe kein Geld für solche Spielereien“, stellte Falk lapidar fest.

„Dann werde ich sie Euch leihen.“ Der seltsame Mann ließ sich nicht beirren. „Für ein Jahr und einen Tag.“

Falk hob erstaunt die Augenbrauen und sah ihn mißtrauisch an. Worauf sollte das hinauslaufen? „Und ich brauche sie auch nicht, ich habe eine Harfe.“

„Wartet ab, bis ich Euch erklärt habe, was es mit dieser Spieldose auf sich hat. Denn sie kann weit mehr als nur eine Melodie zu spielen.“ Er blickte Falk eindringlich in die Augen. „Sie ist genau das, was Ihr braucht, glaubt mir, mein Freund. Seht ihr diesen Spiegel?“

Dieser Spiegel, so erläuterte Meister Natas nun, sei in Wirklichkeit ein Fenster, durch das man einen Blick in die Zukunft werfen könne. Jedoch zeigte es keine beliebige Zukunft, sondern die der Musiker. So könne man zum Beispiel sehen, was Walther von der Blumenwiese in einem Jahr täte, und wo man dann nicht von diesem eitlen Gecken gestört werden würde.

Falk blieb skeptisch. Zwar konnte er Walther nicht ausstehen, doch die Welt war auch so groß genug, um ihm aus dem Weg zu gehen, ohne ihn im Spiegel sehen zu müssen.

Doch Natas bestand darauf, daß Falk die Spieldose ausprobierte. „Schließt die Augen, und denkt an Walther heute in einem Jahr. Dann schaut hinein!“

Da Falk einsah, daß er Natas sonst nicht los werden würde, versuchte er es. Erst war der Spiegel merkwürdig matt, doch dann klärte er sich. Er sah, wie von der Blumenwiese in einem Burgsaal auf seiner Laute spielte. Und nicht nur das, er konnte auch die Melodie hören. Leise, aber deutlich drang sie aus der Spieldose. Nun begann Walther zu singen, und metallisch klingend drangen seine Worte aus dem mechanischen Werk. Als er endete, applaudierte sein Publikum unhörbar.

„Schade, wirklich zu schade, daß dieser üble Tropf solchen Erfolg damit haben wird", seufzte Natas. „Kennt Ihr das Stück?“

Falk schüttelte den Kopf.

„Dann wird er es wohl erst in der Zukunft komponieren. Das ist eine Chance. Wollt Ihr es nicht spielen?“

„Es ist seines“, gab Falk trotzig zurück. „Ich spiele keine fremden Lieder, und schon gar nicht von Ihm!“

„Aber nicht doch!“ Der seltsame Alte ergriff Falks Arm. „Er hat es doch überhaupt noch nicht erfunden. Es ist ja noch längst nicht seines!“

Der Musikant wurde nachdenklich. Diese Argumentation war nicht von der Hand zu weisen. Etwas, das es noch nicht gab, konnte man nicht stehlen. Im Gegenteil, es würde sein eigenes werden.

Noch bevor Falk zu einem Schluß gelangt war, unterbrach ihn Meister Natas. „Probiert sie doch einfach aus, ganz nach Eurem Belieben. Ich hole sie mir wieder, in einem Jahr und einem Tag. Lebt wohl!“ Damit stand er auf und ging, ohne weitere Worte zu verlieren. Falk hielt die Spieldose in den Händen und blickte ihm verwundert nach.

Da er nicht recht wußte, was er nun mit diesem unheimlichen Ding anfangen sollte, steckte Falk das Kästchen einfach in seinen Beutel und wanderte weiter. Das noch ungedichtete Lied Blumenwieses ging dem Troubadour nicht mehr aus dem Sinn, und bei seiner nächsten Rast nahm er seine Harfe und begann, zu singen. Die Melodie war eingängig und doch nicht glatt und gefällig, sie übte einen eigentümlichen Zauber aus. Der Text, eine Ballade von Heldentum und Liebe, war einfach und griff eine alte Sage auf. Das war der Stoff, aus dem die Träume der Höflinge waren.

Bei seinem nächsten Auftritt wurde es ein wahrer Erfolg. Seine Zuhörer applaudierten nicht höflich, sondern begeistert. Es entging Falk nicht, daß sie überrascht waren, ein so kraftvolles, mitreißendes Stück von einem unbekannten Barden wie ihm zu hören. Er sonnte sich in diesem Erfolg, und er nahm die Weise in sein Repertoire auf.

Die Versuchung, einen weiteren Blick in die Spieldose zu riskieren, war groß, und Falk hielt ihr nicht lange stand. Die Argumentation von Meister Natas war einleuchtend, diese Musik gehörte noch niemandem, dem man sie stehlen konnte. Erst war es ein weiteres Werk Walthers, dann noch eins und noch eins. Von diesem Zeitpunkt an ging es aufwärts mit Falk vom Kühlensee. Endlich mußte er nicht mehr fragen, ob er auf einer Burg spielen durfte, jetzt hieß man ihn herzlich willkommen, ja er wurde sogar zu immer bedeutenderen Höfen geladen.

Die Dose würde er bald nicht mehr brauchen. Ein paar Mal noch, dann würde er genug gelernt haben, um es selbst besser zu machen. Sein Programm enthielt indessen immer weniger eigene Werke. Statt dessen kamen nun auch Kompositionen anderer erfolgreicher Musiker hinzu, etwa solche Oswald von der Nebelwands oder von Neidhard vom Schönenberg. Und jedesmal drehten sich so Meister Natas' Zahnrädchen.

Eines Tages, als er wieder einen Blick in die Zukunft werfen wollte, bemerkte Falk eine Veränderung in der Spieldose. Die gläserne Phiole, die anfangs klar und leer gewesen war, hatte sich gefüllt. Wie ein blasser, orangefarbener Nebel sah der Inhalt aus, und er schien sich langsam zu bewegen. Falk konnte sich nicht vorstellen, was das sein sollte, doch es schien ihm weder in irgendeinem Zusammenhang zur Musik zu stehen noch sonstwie bedeutsam zu sein, und so beschloß er, es nicht weiter zu beachten und sich statt dessen der Quelle seiner Inspiration zuzuwenden. Aber als er in den Spiegel schaute und die Räder sich zu drehen begannen, da fing das Fläschchen wieder sein Augenmerk ein. Der seltsame Dampf schien in Wallung zu geraten, begann, im Takt der aus der Dose dringenden Musik zu wirbeln und zu tanzen.

Während man an den Fürstenhöfen nah und fern den genialen Sänger und seinen unerschöpflichen Einfallsreichtum lobte, wurde der Dunst im Glase immer dichter. Er sah unheimlich aus, und manches Mal konnte sich Falk nicht des Eindrucks erwehren, daß er lebendig sei. Doch der Musikant verbot sich, weiter darüber nachzudenken, denn er brauchte die Spieldose. Wenigstens eine Weile noch, bis er genug gelernt haben würde.

Falk war nämlich noch nicht zufrieden mit dem, was er erreicht hatte. Nach dem anfänglichen Überschwang bemerkte er, daß seinem Spiel noch immer ein wesentliches Element fehlte. Seine Zuhörer waren begeistert, sie jubelten ihm zu, wie sie es nie zuvor getan hatten, und sie verlangten eine Zugabe nach der anderen, aber etwas vermißte der Barde. Es dauerte eine gute Weile, bis ihm klar wurde, was es war: niemand war bewegt oder gar ergriffen. Gleich, welche dramatischen Heldensagen oder traurigen Liebesgeschichten er besang, seinem Publikum gefiel die Musik, und doch blieb es unberührt.

Also suchte der Troubadur nach neuen, gefühlvolleren, mitreißenderen Stücken, aber dieser Erfolg war ihm nicht vergönnt. Was war es, das fehlte? Wieder und wieder blickte Falk in den Spiegel und beobachtete. Die zukünftigen Hörer der Lieder waren betroffen, fühlten mit den besungenen Gestalten. Doch wenn er sie spielte, blieb all das aus. Er erreichte nicht ihre Seele.

Dessen ungeachtet war Falks Ruhm auf seinem Höhepunkt. Die Damen himmelten ihn an, die Fürsten rissen sich um ihn, und er gastierte längst nicht mehr auf kleinen, unbedeutenden Burgen. Sein Ehrgeiz aber war ungestillt, denn auch ihn selbst füllte die Musik nicht mehr aus.

Allein der Nebel in der Phiole wurde immer dichter. Irgendwann bemerkte Falk, daß sich die Räder auch dann drehten, wenn er selbst eine der nie komponierten Melodien spielte, und ebenso gerieten die Schwaden in dem Gläschen in Wallung. Es war wahrhaftig ein seltsames Instrument. Aber er konnte sich keinen Reim drauf machen.

Das Jahr neigte sich dem Ende entgegen. Falk hatte viel Geld verdient, und es würde bestimmt reichen, um Meister Natas die Spieldose abzukaufen. Zwar würde er sie bald nicht mehr brauchen, so sagte er sich noch immer, doch es wäre besser, sie zu behalten, für alle Fälle. Zur Sicherheit legte er sich aber trotzdem noch einen Vorrat von neuen Stücken an.

Es war nur zwei Tage vor Ablauf der Frist, die dem Spielmann von Meister Natas gesetzt worden war. Zwei Wochen lang hatte er das Publikum im Schloß des Großherzogs begeistert, und nun war er auf dem Weg zur Residenz des König, als er abends in einem kleinen Dorf halt machte. Er war gut gelaunt und wollte nur für ein Essen und einen Schlafplatz im Stroh spielen, so es früher seine Gewohnheit gewesen war.

Unter der alten Eiche auf dem Dorfplatz sang er die großen Balladen von Ritterlichkeit und Liebe, doch die Bauern begannen bald, sich zu langweilen. Richtig, entsann er sich, die einfacheren Leute liebten einfache Tänze. Auch von diesen hatte er sich für alle Fälle, und weil er sie selbst so mochte, ein Repertoire aus der Zukunft angelegt, aus dem er nun schöpfte. Und tatsächlich, sie kamen gut an, und bald wurde ausgelassen getanzt.

Aber es wurde ein langer Abend, und bald mußte Falk auf alte Stücke zurückgreifen. Erst tat er es widerwillig, doch dann machten sie ihm mehr und mehr Spaß, und den Tänzern schien es ebenso zu gehen. Glücklich und immer wilder spielte er auf seiner neuen Fiedel. Warum hatte er so fast ein Jahr schon nur noch auf Schlössern gespielt?

Die Nacht ging zu ende, und Falk war nicht weniger müde als sein Publikum. Nur wenige Unentwegte hielten es noch auf der Tanzfläche aus, die meisten anderen saßen daneben und lauschten nur noch der Musik, viele waren längst zu Bett gegangen. Der Barde beschloß, das letzte Stück zu spielen. Er nahm wieder seine Harfe und sang die Ballade vom Drachentöter. Es war sein Lieblingslied, das wirkungsvollste und dramatischste, was er der Spieldose zu verdanken hatte, und so legte er nun noch einmal alle Kraft in seine Aufführung.

„Aufhören!“ schrie eine brüchige Stimme aus dem nächtlichen Schatten.

Irritiert kam Falk aus dem Takt, aber er fing sich schnell wieder. Doch die geheimnisvolle Ruferin wollte keine Ruhe geben.

„Aufhören! Sofort aufhören!“ Es war eine alte Frau, gebückt und auf einen Stock gestützt, die der Musikant bislang noch nicht wahrgenommen hatte. Nun trat sie mit schlurfendem Schritt vor ihn. „Hört auf damit, Ihr Banause!“

Endlich hatte sie es geschafft, Falk aus der Ruhe zu bringen. Er brach seinen Gesang ab, und die letzten Harfenakkorde verklangen in der betretenen Stille. Sah so eine Hexe aus? Ein Schauer lief ihm über den Rücken.

„Merkt ihr denn nicht, daß Eure Musik kalt ist?“ Die Greisin fuchtelte wütend mit dem Stock. „Eiskalt ist sie, ohne Seele. Woher habt Ihr sie? Ach, ich will es nicht wissen, vergeßt sie einfach. Und beleidigt nie wieder meine Ohren!“ Damit drehte sie sich um und verschwand in der Dunkelheit.

Verwirrt sah Falk der Alten nach. Er wollte ansetzen, um weiterzuspielen, aber seine zitternden Finger fanden die Saiten nicht. Was für einen Unsinn behauptete sie da?

Oder hatte sie etwa recht?

Schlaflos wälzte sich Falk vom Kühlensee in seinem Lager aus Stroh. Die Worte der seltsamen Frau gingen ihm nicht aus dem Kopf. ‚Kalt kalt kalt‘ Natürlich war sie das. Hatte er es nicht selbst gespürt, daß sie den Zuhörern keine Wärme gab? Wie hatte er seine Augen davor verschließen können? Falk stand auf, packte leise seine Instrumente zusammen und schlich noch vor Morgengrauen aus dem Dorf. Er mußte alleine sein und nachdenken.

Den Vormittag über wanderte er rastlos über die Landstraße, als wolle er eine möglichst große Strecke zwischen sich und die alte Frau bringen. Doch er wußte, daß er dieser Sache nicht davonlaufen konnte. Auf einer einsamen Waldlichtung hielt er inne und setzte sich auf einen Baumstamm.

Was hatte es mit der Musik aus der Spieldose auf sich? Ratlos drehte er das Kästchen in den Händen. Warum war sie anders? Die besten der Spielleute hatten sie komponiert. Nein, so war es eben nicht, und sie würden es nie tun. Niemand würde diese Stücke schreiben, kein Mensch hatte sie erdacht und seine Gefühle in sie gepackt. War es das?

Natürlich! Schlagartig wurde es ihm klar. Es war die Seele, die fehlte. Falk klappte mit zitternden Fingern den Deckel hoch und starrte auf die dunkel gefüllte Phiole. Nun ahnte er, was sie enthielt.

Es war seine Schuld, daß die Seele der Musik in der Spieluhr gefangen war, und er wußte, daß es seine Aufgabe war, sie wieder zu befreien. Vorsichtig rüttelte Falk an dem Fläschchen, aber es lies sich nicht bewegen. Auch der Verschluß saß unverrückbar fest. Der Barde war ratlos. Morgen würde Meister Natas erscheinen, und wenn er tatsächlich der war, für den Falk ihn nun hielt, würde er ihn überall finden.

Sein Blick fiel in die noch immer offene Schachtel. Der Spiegel zeigte ein Bild. Es dauerte eine Weile, bis Falk erkannte, daß er selbst es war, den er da sah. Er hatte an den morgigen Tag gedacht, und nun bekam er seine eigene Zukunft gezeigt.

Der Spielmann hielte die teuflische Dose fest umklammert. Meister Natas stand vor ihm und streckte fordernd die Hand aus. Sein Mund öffnete sich zu lautlosen Worten. ‚Nein‘, hörte Falk sich mit der metallischen Stimme des Uhrwerks sagen. Aber das Kistchen wand sich in seinen Fingern, und er mußte es freigeben. Es fiel ihm vor die Füße, und Natas nahm es auf. Sein lautloses Lachen verzerrte sich zur Fratze. Dann war da wieder sein eigenes, von blankem Entsetzen gezeichnetes Gesicht.

Die Scheibe wurde wieder blind, die Prophezeiung verschwamm, und Falk starrte in sein Spiegelbild. Er klappte den Deckel zu. Irgend etwas mußte er unternehmen. Ließ sich Meister Natas überlisten? Doch so sehr er auch grübelte, kein gangbarer Weg wollte sich zeigen. Weder Flucht noch Verweigerung würden ihn aus dieser Sache herausbringen. Kein Handwerker dieser Welt konnte ihm eine falsche Spieldose bauen, keine Lüge würde ihm helfen. Er mußte die Seelen der Lieder selbst befreien!

Diesmal versuchte er mit Gewalt, die Phiole aus den eisernen Klammern zu befreien. Aber sie saß fest. Sein Messer zerbrach, als er es als Hebel einsetzte. Er nahm einen Stein, aber der hinterließ nicht einmal eine Delle. Immer heftiger schlug er zu, ohne etwas am Resultat zu ändern. Atemlos gab er auf. Hätte er doch nur eine richtige Waffe!

Nach kurzem Überlegen versuchte er es am Uhrwerk. Vielleicht ließ sich die Seelenfalle ja von dieser Seite her knacken. Vorsichtig probierte er, ob die Rädchen sich drehen ließen. Sie saßen fest, und auch mit der zerborstenen Klinge konnte er weder etwas bewegen noch verbiegen. Immer verzweifelter schlug Falk nun auf den Kasten ein, warf ihn auf den Boden, trat darauf herum, riß an den so dünn erscheinenden Seiten und zerrte am Deckel. Alles blieb vergeblich. Ob er es mit fremder Hilfe schaffen konnte? Also eilte der Spielmann ins nächste Dorf und begab sich zum Schmied. Doch auch sein Feuer vermochte nichts gegen dieses Teufelswerk ausrichten, und sein Hammer blieb ebenso erfolglos wie die Axt des Holzfällers. Weihwasser perlte ab, und der Pfarrer wies Falk voller Angst die Tür, als dieser ihn um Beistand gegen den Leibhaftigen bat.

Endich gab Falk vom Kühlensee auf. Er hatte anderer Leute Werke gestohlen und die Musik ihrer Seele beraubt, und morgen würde er für seine Taten einstehen müssen.

Am nächsten Tag erwachte der Spielmann zerschlagen und mutlos im feuchten Gras. Er blickte auf die Spieldose, die noch immer neben ihm lag, und ließ alle Hoffnung fahren. Es war kein Traum gewesen. Falk stand auf, packte sein Bündel und wanderte ziellos umher. Er brauchte nicht zu suchen, das wußte er.

Tatsächlich ließ Meister Natas nicht lange auf sich warten. Einen Augenblick nur hatte Falk zur Seite geschaut, und als er seine Augen wieder auf den Weg richtet, stand der unheimliche schwarze Mann vor ihm.

„Wie ich sehe, ist es Euch gut ergangen, junger Freund", stellte er lächelnd fest. „Nun gebt mir mein Eigentum zurück.“

Falks Finger krampften sich um die Dose. „Was dort drinnen ist, das ist niemandes Eigentum", entgegnete er mit zitternder Stimme.

Meister Natas lachte und streckte fordernd die Hand aus. „Nichts verstehst du von solchen Dingen, mein kleiner Junge. Gar nichts! Und du weißt sehr wohl, daß du sie mir nicht verweigern kannst. Also gib sie mir im Guten! Die Worte klangen längst nicht mehr freundlich, und sie donnerten, als kämen sie aus dem Untergrund.

„Nein!“ sagte Falk ohne zu wissen, woher er den Mut zum Widerspruch nahm. Alles war, wie der Spiegel es gezeigt hatte. Gab es keinen Ausweg?

Die Spieldose begann zu beben. Er umklammerte sie verzweifelt, aber sie bewegte sich immer heftiger und entwand sich seinem Griff. Natas hob sie zufrieden auf. Sein Lachen verzerrte sich zur Fratze. Er öffnete den Deckel und sah hinein.

„Du hast gute Arbeit geleistet, Kleiner.“

Falk versuchte zu schreien, aber es gelang ihm nicht. Seine Gedanken verwirrten sich, ihm schwindelte, und er sah nur noch das Gesicht von Meister Natas. Wenn er nun nicht wahnsinnig werden wollte, mußte er etwas tun. Ihm fiel nichts anderes ein, als zu singen. Er wußte nicht, was es war, aber die Musik brachte seine Zunge wieder unter Kontrolle. Das Grinsen seines Gegenübers erstarb.

„… ‚Der Tod dich nun bald holt‘, der falsche Ritter sprach. ‚Doch du hast nie gelebt', so sagt der Knabe wach …“ Es war ein altes Kinderlied von einem Jungen, der dem Teufel begegnete. Falk hatte es längst vergessen geglaubt, doch nun kam es mit der Kraft der Verzweiflung über seine Lippen. Alle seine Gefühle lagen in diesen Strophen. Er wollte dem Bösen widerstehen!

„Hör auf, du Narr!“ brüllte Meister Natas voller Zorn. Die Spieluhr in seinen Klauen zitterte. Er wollte seine Krallen nach Falk ausstrecken, aber er mußte das Kästchen nun schon mit beiden Händen festhalten.

„Nein!“

Falk sang weiter.

Der Geist der Musik hörte zu, erstarkte in der Welle der Gefühle und versuchte, sich zu befreien. Die Dose war kaum noch zu bändigen. Das Knirschen der Räder mischte sich in wilde, metallische Akkorde und Dissonanzen. Dann zerbarst die Spieluhr mit einem lauten Knall. Natas schrie auf. Ein gewaltiger Schlag traf den Spielmann, und er verlor das Bewußtsein.

Als Falk erwachte, war er allein. Die Trümmer seiner Instrumente lagen verstreut um ihn herum. Er versuchte aufzustehen, fiel aber sofort wieder hin. Sein linkes Bein war lahm, und sein Körper schmerzte. Vorsichtig untersuchte er seine Glieder, und zu seiner Erleichterung fand er sie unverletzt. Mit Hilfe eines Astes gelang es ihm, sich aufzurichten. Nur der Rücken ließ sich nicht strecken, und seine tastenden Finger fanden einen Buckel zwischen den Schultern.

Es dauerte eine Weile, bis sich der Musikant erinnerte, was geschehen war. Er hatte die Seelen der gestohlenen Stücke befreit. Doch welche Lieder waren das? So sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht entsinnen. Waren sie in ihre Zeit zurückgekehrt? Falk hoffte es.

Die Schmerzen vergingen, aber die Lähmung und die Mißgestalt blieben. Nachdem er sich erholt hatte, begann er wieder zu singen. Schnell verdiente er sich so das Geld für eine neue Harfe. Er trug nur noch eigene Kompositionen vor, und auch wenn er dabei nie die Meisterschaft eines Walther von der Blumenwiese erreichte, sprangen doch die Wärme und die Leidenschaft seiner Lieder auf die Zuhörer über. Man bejubelte ihn nicht, aber seine Musik bereitete seinem Publikum Freude, und das reichte ihm. So wurde der Name Falk vom Kühlensee bald aufs neue ein Begriff auf allen Märkten, Schlössern und Dorfplätzen.

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