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Leana

Der mittelalterliche Tanz endete mit einem wilden Triller, und der Dudelsack erstarb mit einem Quäken. Ein letztes Mal machte der bunt bekleidete Spielmann mit seinem Hut die Runde vor dem spärlichen Publikum. Manche ignorierten ihn und wandten sich ab, andere zögerten, bevor sie eine Münze hineinwarfen. Rings umher hasteten die Leute durch die Fußgängerzone, um die letzten Einkäufe zu tätigen. Für ihn hatte jetzt fast niemand mehr Zeit.

Eckart packte seine Instrumente zusammen, setzte sich auf eine Bank und zählte seine Einnahmen. Über hundert Mark waren es, und schon wieder eine Goldmünze! Gestern hatte er seinen Augen nicht getraut, als er die altertümliche Münze entdeckt hatte. Fremde Währungen, Knöpfe, Spielgeld und vieles mehr hatten Spaßvögel schon in seinen Hut geworfen. Aber wer spendete einem Straßenmusiker spanische Dublonen? Sie war echt und wertvoll, hatte der Mann im Münzengeschäft gesagt.

Jetzt war da ein zweites Stück, und es sah noch älter aus. Eckarts Neugier war geweckt. Morgen hatte er weiterziehen wollen, mit dem Zug in die nächste Stadt, und dann zum Mittelalterlichen Markt in H. Nun würde er hierbleiben. Er wollte den mysteriösen Wohltäter finden.

Leana war froh, endlich wieder aus der Stadt heraus zu sein. Die Menschenmassen behagten ihr nicht, sie fühlte sich bedroht, verfolgt und schutzlos in der Menge. Sie wußte, daß das Unsinn war, aber sie konnte diese Gefühle nicht unterdrücken. Und da waren auch noch die Erinnerungen, die sie nicht zu deuten wußte. Es waren nicht ihre eigenen. Da waren verstopfte Straßen voller Menschen und Pferde, schlammig und stinkend. Kinder spielten im Schmutz zwischen Hunden und Schweinen. Verkrüppelte Bettler hockten in der Gosse.

Doch gestern, bei der Vorstellung des Spielmanns, hatten sich angenehmere Bilder daruntergemischt. Ein Markt, Musik, Tänzer. Waren das ihre eigenen Erinnerungen? Leana konnte es nicht sagen. Alles vermischte sich.

Sie hatte die Augen geschlossen, die unpassende Umgebung vergessen, und lange zugehört. Es war eine Musik, die Leana für längst vergangen gehalten hatte, die ihr seltsam vertraut vorkam, die Musik ihrer Jugend. Ihrer Jugend? Leana lachte für einen Augenblick. War sie wirklich so alt?

Das Klappern der Münzen im Hut des Spielmanns riß Leana aus ihren Gedanken. Sie öffnete erschrocken die Augen und sah in sein Gesicht. Er lächelte. Verlegen wühlte sie ein Geldstück aus ihrer Tasche und warf es zu den anderen. Als er weitergegangen war, hatte Leana aufgeatmet und sich eilig zum Gehen gewandt.

Heute hatte sie ihn gesucht, und sie war erleichtert, daß er noch nicht weitergezogen war. Sein Bild hatte sie nicht losgelassen, bis in den Traum hatte es sie verfolgt. Hatte sie den Spielmann mit den langen blonden Haaren und den blauen Augen schon einmal gesehen, oder spielten ihr diese unsinnigen Erinnerungen einen weiteren Streich? Doch die Gedanken ließen sich nicht abschütteln. Hätte sie nicht gewußt, daß es unmöglich war, Leana hätte geglaubt, sich in ihn verliebt zu haben.

Als sie ihn nun betrachtete und seiner Musik lauschte, fühlte sie sich wieder in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt. Sie fühlte sich jung. Unsinn, sie war jung. Was bedeutete all das? Für einen Moment wollte Leana davonlaufen, aber es wäre eine Flucht vor ihr selbst gewesen.

Der Spielmann beobachtete sein Publikum heute aufmerksamer als sonst. Es war immer interessant, die Reaktionen der Zuschauer auf seine altertümliche Melodien zu verfolgen. Manche betrachteten ihn wie ein Zirkustier, zeigten mit dem Finger auf ihn oder erklärten ihren Kindern gar, daß er ein Clown sei. Andere zeigten ein wohlwollendes Interesse. Seine Darbietung war historisch, aber war sie Musik? Die fing doch bei Klassik an und hörte dort auch wieder auf. Oder bei Rock. Eckart befand sich in einem musikalischen Niemandsland. Er war ein seltsames, originelles Tier, das man zwischen zwei Schaufenstern bestaunte. Manchmal fragte sich Eckart, warum er hier Perlen vor die Säue warf. Aber das war nur die eine Seite. Hätte er genug Geld zum Leben in seinem Hut, wenn nur Banausen zuhören würden? Oft versuchte Eckart beim Spiel zu ergründen, was sich hinter welchem der Gesichter um ihn verbarg.

Heute hatte er andere Gedanken. War einer oder eine von ihnen der geheimnisvolle Spender? Wenn er zwischen den Auftritten mit seinem Hut herumging, musterte er seine Zuschauer genauer als sonst, und auch wenn es unhöflich war, schaute er immer wieder nach, was sie gespendet hatten.

Für einen kurzen Moment sahen sie sich in die Augen. Aber der Spielmann beachtete sie nicht weiter, durchmusterte weiter wie suchend die Menge. Nach was mochte er Ausschau halten?

Leanas Blick blieb an ihm hängen. Was war es, das sie so magisch anzog? Sanft wiegte sie sich im Rhythmus der Melodie. Und da waren wieder die rätselhaften Bilder. Sie sah ein Fest, Musikanten. Sie sah sich selbst tanzen, ein Instrument in ihren Händen haltend. Um sie herum war Fröhlichkeit, Lachen und Singen. Das war ganz anders als jetzt. Die Menschen um sie herum waren nur neugierig, kein bißchen ausgelassen. Nur die Musik war vertraut, die selbe wie damals.

Es waren angenehme Erinnerungen, aber sie machten ihr Angst, weil sie sich nicht deuten ließen. Wurde sie etwa verrückt? Unsinn!

Leana schüttelte den Kopf, versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. Sie zwang sich, den Lärm ringsum wahrzunehmen, den Geruch der Menschenmassen. Vor ihr stand nur ein Mensch, nichts weiter. Sie sog die Luft ein, versuchte zu erahnen, welcher Duft von ihm stammte. Wie würde er schmecken? Instinktiv fuhr Leana mit der Zunge über ihre Zähne.

Nun begann er zu singen, und seine Stimme riß Leana zurück. Er war anders. Etwas an ihm zog sie an, weckte andere Gedanken in ihr als den Appetit. Sie beobachtete, wie geschickt seine Finger über die Grifflöcher der Sackpfeife glitten, wie liebevoll er die Laute spielte. Sie registrierte jede seiner Bewegungen. Und über allem lag seine sanfte Stimme.

Es war wie das Erwachen aus einem Traum, als das tragisch schöne Liebeslied ausklang. Jetzt nahm er seinem Hut, um wieder die Runde durch die Zuhörerschar zu machen. Und wieder war Leana versucht, wegzulaufen, bevor er sie erreichte. Aber sie riß sich zusammen und kramte in ihrer Tasche nach einer der alten Münzen, von denen sie zwar nur noch wenige besaß, die ihr aber als einzige passend erschienen.

Eckart wußte selbst nicht, wie er sich seinen geheimnisvollen Wohltäter vorgestellt hatte. Vielleicht als silberhaarigen Gentleman mit Melone und Spazierstock, als exzentrische alte Dame mit protzigem Goldschmuck, oder vielleicht als einen Geist, der jener Zeit entlaufen war, aus der die Münzen stammten. Ein zierliches, etwas schüchtern wirkendes Mädchen mit nachlässiger Kleidung hatte er gewiß nicht erwartet. Aber es bestand kein Zweifel, sie war es, die eben zum dritten Mal eine Goldmünze in seinen Hut geworfen hatte. Eckart wußte nicht, was er tun sollte, und er ging wortlos weiter.

Sollte er sie ansprechen? Doch wie? Beim Gentleman oder der exzentrischen Dame hätte er sich einfach bedankt. Dieses Mädchen mit den grünen Augen, langen dunkelblonden Haaren und dem verträumten Lächeln faszinierte ihn. Eckart glaubte trotz seiner romantischen Veranlagung nicht an Liebe auf den ersten Blick. Aber dieses Gefühl war sehr nahe daran.

Bemerkte sie, wie er sie anstarrte? Wurde er rot? Eckart verspielte sich nun zum vierten Mal. Jemand im Publikum lachte. Das Mädchen wandte sich zum Gehen.

Eckart ließ fast seine Laute fallen. „Warte!“ rief er. „Bitte, warte!“

Leana rannte.

Immer wieder sah sie sich um. Aber er verfolgte sie nicht. Blickten sich die Menschen nach ihr um? Sie stieß mit einer schwer mit Einkaufstüten beladenen Frau zusammen und eilte weiter, ohne deren Flüche zu beachten.

Leana wagte es nicht, die Untergrundbahn zu benutzen. Der Gedanke, zwischen menschlichen Körpern eingesperrt zu sein, eingeschlossen in einem stählernen Gefängnis, versetzte sie jetzt nur noch mehr in Panik. Sonst machte dieser Geruch ihr Appetit, sie mochte ihn. Doch gerade deshalb fürchtete und verabscheute sie ihn nun.

Sie rannte einfach weiter, eine Stunde oder länger, bis sie schließlich den Stadtrand hinter sich gelassen hatte. Erst jetzt ging sie langsamer. Sie war geflohen, schoß es ihr plötzlich durch den Kopf, geflohen vor einem Menschen!

Eckart hatte ihr lange ratlos nachgesehen. Verzweifelt versuchte er, ihr Bild festzuhalten, doch es schien so nur um so schneller zu verblassen. Er spielte noch halbherzig ein weiteres Stück, dann kapitulierte er vor den falschen Tönen. Sein Entschluß stand fest, er mußte nicht lange darüber nachdenken. Der mittelalterliche Markt konnte warten, wichtig war allein, SIE wiederzufinden. Und wenn es sein mußte, würde er noch länger hierbleiben, selbst wenn das neue Semester ohne ihn beginnen mußte. Was bedeuteten Pädagogikvorlesungen gegen SIE?

Nun bummelte Eckart gedankenverloren durch die Innenstadt. Er spiegelte sich in einer Schaufensterscheibe und betrachtete sein Bild. Schwer bepackt mit Instrumenten, im mittelalterlichen Kostüm, mit langen Haaren und Federhut schien er nicht in diese Welt zu passen. Was hätte er anderes in seinem Hut finden sollen als antike Münzen? Ein Wanderer aus einer anderen Welt, so fühlte er sich, wenn er in Einkaufszentren, auf Fußgängerzonen und Marktplätzen seine Musik machte. Nur ein Gast, zuhause auf alten Schlössern, in Wäldern mit Einhörnern, unter Rittern und Edelfrauen. Ein Zauberspruch nur, und diese profane Umgebung würde sich im Nebel auflösen, um dem wirklichen Leben, dem Märchenwald, Platz zu machen.

Eckart mußte Lachen. Das Spiegelbild verblaßte und die bunte Warenflut dahinter kam wieder zum Vorschein. Dies war die reale Welt, das andere war Schau, Rollenspiel, Fantasy. Und doch, er hatte eine Prinzessin gefunden, die Goldmünzen verschenkte. Er mußte sie wiederfinden, und vielleicht würde sie ihn doch in die andere Welt bringen.

Er wandte sich ab und machte sich auf den Weg zur Jugendherberge.

Leana setzte sich ins Gras am Straßenrand. Sie war hungrig, und so packte sie schon hier das Kilo Bratenfleisch aus, das sie in der Stadt gekauft hatte. Roh wie es war, schlang sie es Bissen für Bissen herunter.

Sie war weggelaufen, dachte sie kopfschüttelnd, dabei hatte sie doch bleiben wollen. So etwas war ihr noch nie passiert, und trotzdem erschien es ihr vertraut. Wie sollte sie ihn ansprechen? Würde sie ihn überhaupt wiederfinden? Und was dann? Ratlos machte sie sich auf den Heimweg.

Leana wohnte in einer schäbigen Hütte am Rand eines Vorortes, zwischen den vergammelten Mietskasernen und dem Wald, an einem Platz, an dem sich niemand für den anderen interessierte. Hier war sie ungestört.

Als sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, fühlte sie sich sicherer. Aber war das nicht unsinnig? Welchen Schutz sollte eine Wohnung bieten? Und wovor bedurfte sie Schutz? Leana lachte. Das war nicht ihre eigene Angst, sondern jene andere. Doch was machte das, wenn sie es fühlte? Sie mußte diese menschliche Gestalt ablegen, um wieder zu sich selbst zu finden. Leana zog sich aus. Die Kleider warf sie achtlos, wie eine lästige Verpackung, zu Boden.

Mit jener seltsamen Abscheu, die sie nie ganz verstanden hatte, betrachtete Leana den Gürtel aus Menschenleder, der ihre nackte Taille umschloß, den magischen Gürtel, der es ihr ermöglichte, menschliche Gestalt anzunehmen. Sie war ein Raubtier, und dies war die Haut ihrer liebsten Beute. Trotzdem empfand sie etwas wie Mitleid für jenes Wesen, dessen Haut es ihr nun ermöglichte, sich zu verwandeln. War es eine Frau oder ein Mann gewesen, vielleicht sogar ein Kind? Es war eine merkwürdige Mischung aus Neugier und Furcht vor der Wahrheit. Sie hatte die Hexe, die ihn ihr gegeben hatte, nie gefragt.

Leana zögerte, die Schnalle zu öffnen. Sie erinnerte sich an ihre erste Verwandlung. Es hatte fast augenblicklich begonnen. Sie hatte ein Kribbeln gespürt, als ihre Klauen sich verformten, schlanker wurden, und die scharfen Krallen sich verkürzten. Sie hatte auf ihre Füße geblickt. Auch deren Haut war nun glatt und zart, und sie sahen aus wie die eines Menschen. Leana tastete nach ihrem Schwanz, aber er war verschwunden. Zu gerne hätte sie einen Spiegel gehabt, um zu sehen, ob ihre Pupillen rund geworden waren. Daß sie jetzt einen Nabel hatte, konnte sie selbst sehen. Schließlich fuhr sie mit der Zunge über ihre Zähne. Die Fangzähne waren geschrumpft, aber noch immer scharf. Die Backenzähne waren unverändert, wie eh und je geeignet zum Brechen von Knochen und zum Zerreißen von Fleisch. Wie sahen sie bei Menschen aus? Leana hatte es bereut, ihre Opfer nie genauer untersucht zu haben.

Nun öffnete Leana die Schnalle, und der Gürtel fiel zu Boden. Ihre zarten Hände und Füße wandelten sich zu kraftvollen, scharf bekrallten Klauen, deren schuppige Reptilienhaut bis zu Ellenbogen und Oberschenkeln reichten.

Um sie herum waren Wände, die plötzlich bedrohlich näher gerückt schienen. Natürlich hatte sie gewußt, daß ihr die Hütte nun wie ein Gefängnis vorkommen würde. Hier fühlte sie sich wie eine Raubkatze in einem Käfig, so wie sie es im Zoo gesehen hatte. Sie gehörte in die Natur, und normalerweise verwandelte sie sich nur dort, draußen im Wald. Aber heute war ja nichts normal. Nicht nur, daß die die Freiheit von Straßen und Siedlungen zerschnitten war, Zäune ihr den Weg versperrten, und sie, das uralte Raubtier, sich unter Menschen verstecken mußte. Daran hatte sie sich im Lauf der Jahre gewöhnt. Aber jetzt, das sah sie in ihrer wahren Gestalt, den Geist ungetrübt von den Erinnerungen der anderen, klarer als zuvor, jetzt hatte sie sich in einen Menschen verliebt.

Verzweifelt warf sie sich auf die Matratze.

Eckart saß unterdessen mit einem Fantasy-Roman in der Hand in einer Ecke des Aufenthaltsraumes der Jugendherberge und stellte fest, daß er von all den Seiten, die er in den letzten Stunden gelesen hatte, fast nichts wußte. Er blätterte zurück, begann noch einmal und gab schließlich auf.

Die Diagnose war eindeutig - er war verliebt.

So standen sie sich am nächsten Morgen gegenüber, zwischen vorüber hastenden Passanten, die das seltsame Paar keines Blickes würdigten, umgeben von Schaufenstern, wilden Tauben und Abfällen. Eine kurze Weile sahen sie sich stumm an, der Träumer und das Ungeheuer.

„Bitte, lauf nicht weg“, sagte Eckart, und Leana antwortete: „Nein.“

Leana ließ sich von Eckart ins Eiscafé einladen. Schweigend gingen sie hin, und schweigend saßen sie sich nun gegenüber. Sie lächelten sich an und wußten nicht, wie sie das Gespräch beginnen sollten. Mit jedem anderen Gegenüber wäre es leichter gewesen. Die Musik war es schließlich, die die Stille brechen half. Wo Eckart die alten Melodien gelernt habe, fragte Leana, und er gab ihr bereitwillig Auskunft. Leana selbst blieb verschlossener, hielt ihre eigenen Antworten so allgemein wie möglich. Auch wenn sie wußte, daß die Menschen nicht mehr an Wesen wie sie glaubten, fürchtete sie doch, Eckart durch unbedachte Bemerkungen zu befremden.

Eckart hingegen versuchte, sich sein eigenes Bild zu machen. Sie wohnte in einer Siedlung, welche fast die Bezeichnung Slum verdiente, soviel hatte er erfahren, sie schien keine Arbeit zu haben, wie konnte es ihn also wundern, wenn sie so wenig über ihr Leben erzählen wollte. Andererseits, sie verschenkte antike Goldmünzen, oder hatte er sich geirrt, war es doch der Mann neben ihr gewesen? Wie auch immer, Leana blieb rätselhaft, er war verliebt in sie und wollte sie nicht durch Neugier verschrecken.

Vielleicht war es gerade der Schleier des Geheimnisses, der Leana noch liebenswerter, noch begehrenswerter erscheinen ließ. Für Leana war es die Erinnerung an jene ferne Vergangenheit, gleich ob es ihre eigene war oder nicht, die Eckart so vertraut und faszinierend machte. Aber für beide war es weit mehr als das.

Am nächsten Morgen saßen sie gemeinsam im Zug nach H. Ihr Gespräch war längst gelöster als am Vortag, noch immer auf eine nur halb bewußte Weise vorsichtig, aber längst nicht mehr von Vorsicht bestimmt. Leana freute sich nicht minder auf den Mittelalterlichen Markt als Eckart, wenn auch aus anderen Gründen. Für ihn war es ein Spiel, ein großer Tagtraum. Was er ihr erzählt hatte, hatte Bilder in ihr wachgerufen, die intensiver waren, als sie es zuvor erlebt hatte. Sie empfand es wie eine Aussicht auf eine Rückkehr, auch wenn sie nicht wußte, wohin. Vielleicht würde sie es dort herausfinden.

Leana fühlte sich der Gegenwart keineswegs fremd. Seit Jahrhunderten verbrachte sie immer mehr Zeit unter den Menschen. Sie hatte sie beobachtet und belauscht, mit ihnen gesprochen und gelebt. Durch Zuhören und Belauschen hatte sie die menschliche Sprache schon beherrscht, als sie noch nicht Menschengestalt annehmen konnte. Sie hatte lesen gelernt, und sie hatte mit so vielen ihrer Opfer gesprochen, daß sie längst gefahrlos unter den Menschen leben konnte, sicherer als ein gejagtes Untier im Wald. Gewiß, seit einem Jahrhundert wurden die Veränderungen immer schneller, aber Leana fand sich zurecht.

Jetzt aber, seit sie Eckart kannte, war plötzlich alles neu. Ihr schauderte bei dem Gedanken, ihn zu fressen. Statt dessen wünschte sie sich, ihn zu berühren, bei ihm zu bleiben und von ihm mehr über die Menschen zu erfahren. Und gleichzeitig war die Vergangenheit in so greifbare Nähe gerückt. Es war, als wäre Eckart ein lange gesuchtes Bindeglied zwischen Leanas Welten.

Der Torweg des Schlosses von H. hallte wider vom Klang der Trommeln und Drehleiern. Die Menschen, die um sie herum durch den Eingang strömten, sahen völlig alltäglich aus, nicht anders aus als irgendwo in einer modernen Stadt. Für einen Moment war Leana enttäuscht, doch als sie den Hof betrat, blieb sie überwältigt stehen.

Bunt gekleidete Händler priesen lautstark ihre Waren an, zwischen den Ständen boten Gaukler ihre Kunststücke dar, Musikanten untermalten die Schau der Akrobaten. Ein zerlumpter Bettler lag im Stroh neben einer Bude und foppte die Vorübergehenden. Da war ein Schmied, der gerade ein Kutschpferd beschlug, Korbflechter und Töpfer gingen, von Neugierigen umringt, ihrem Handwerk nach. Leana fühlte sich um Jahrhunderte zurückversetzt.

Ein dicker Mönch stellte sich vor sie. „Verderbtes Volk, tuet Buße...“, begann er und brach sogleich ab, als Leana, selbst erschrocken, ihn wütend anfauchte. „Weh euch, Hexe!“, hörte sie ihn noch lamentieren, als er mit nur halb gespieltem Schrecken das Weite suchte. Verwirrt sah ihm Leana nach. All das ist ein Spiel, nicht mehr, beruhigte sie sich. Und doch, wären da nicht die Besucher gewesen, die Wochenendausflügler mit ihren Fotoapparaten, es wäre zum Fürchten echt gewesen.

Indessen hatte sich eine junge Frau zu ihnen gesellt. Sie trug ein rotes Gewand und ein hohe, spitze Kopfbedeckung mit einem Schleier über dem wallenden blonden Haar.

„Ich grüße Euch, Lady Gwenhwyfar!“ Eckart umarmte sie zur Begrüßung.

Lady Gwenhwyfar - im bürgerlichen Leben Jenny, Sekretärin - und Eckart kannten sich schon seit Jahren. Es war immer mehr als Freundschaft zwischen ihnen gewesen, wenn auch weniger als Liebe, zumindest auf Eckarts Seite. Ein kurzer Blickwechsel genügte, und Leana erkannte sofort, was Gwenhwyfar empfand, vielleicht, weil sie ähnlich fühlte. Sie lächelte Gwenhwyfar freundlich zu, dann wandte sie sich ab und schlenderte über den Markt

Leana ließ sich von der Besucherschar treiben. Sie fühlte sich wohl, und die neue Umgebung erschien ihr seltsam vertraut, als sei sie nach langer Zeit heimgekehrt. Das konnte nicht sein, das wußte Leana. Sie stammte aus menschenleeren Wäldern und Bergen, weitab von den Städten der Menschen. Sie wußte es - doch da waren Gefühle, die ihr etwas anderes sagten, und da waren die Erinnerungen, die fremd und vertraut zugleich waren.

Ein prächtig gewandeter Edelmann ging an ihr vorüber. Altmodisch, schoß es Leana durch den Kopf, seit Jahren aus der Mode gekommen. Seit Jahren? Doch, denn nun trug man am Hof die Ärmel doch länger, und seinen Schuhen fehlten die geschwungenen Spitzen. Jetzt? Seltsam. Leanas Blick schweifte über die Auslagen der Krämerstände. Da waren Dinge, wie sie sie kannte, und andere, die nicht hierher zu gehören schienen. Ein Sammelsurium der Zeiten, wurde Leana plötzlich klar, längst Vergangenes gemischt mit einst Zukünftigem und doch schon wieder Altem. Und dazwischen war eine Grenze, die ihr plötzlich als Gegenwart erschien. Sie lebte in jener Zeit, und das Spätere gehörte in ein anderes Leben.

Leana schloß die Augen, doch das Bild des Marktes blieb. Die Musik drang weiter an ihr Ohr, und mit ihr war es wie mit allem anderen, sie war eine Mischung der Jahrhunderte. Dann war ihr, als spürte sie den Gürtel auf ihrer Haut pulsieren, als sei Leben in das Leder gekommen. Die Stimmen um sie verschmolzen zu einem Rauschen, und Leana glaubte dazwischen Sätze in wirklich alter Sprache zu vernehmen. Die Menschen vor ihrem geistigen Auge trugen Lumpen oder kostbare Gewänder, sie liefen durch Schmutz und Kot. Sie sah an sich hinab, auf ihren mit Schellen besetzten Rock, die nackten Füße und die Trommel in ihrer Hand. Ihre Haare waren rotbraun, nicht mehr dunkelblond, und sie hingen als Zöpfe über ihre Schultern. Sie wiegte sich im Takt der Musik, begann zu tanzen und die Trommel zu schlagen.

Eine Stimme erklang. „Leana“ rief sie. War sie gemeint? Nein, sie hieß doch Mariella. „Leana!“ Was bedeutete dieser Name? Sie drehte sich um. Ein Mann im Narrenkleid stand vor ihr, er hieß Godwin, nein, Eckart. „Leana!“ rief er wieder. Die Bilder verschwammen, alles drehte sich und ihr wurde schwarz vor Augen.

Als Leana wieder zu sich kam, sah sie in Eckarts besorgtes Gesicht. Sie saßen abseits des Trubels an der Burgmauer, und er hatte schützend seinen Arm um sie gelegt. Über ihnen am Himmel zog ein Flugzeug einen weißen Streifen hinter sich her. Leana war erleichtert.

Noch nie waren die Phantombilder der Vergangenheit so real gewesen, noch nie so dauerhaft. Diesmal verflogen sie nicht, und Leana konnte sich an jede Einzelheit erinnern, ja sogar an mehr als das, was sie gesehen hatte. Jetzt waren da Namen, eine Geschichte, schemenhaft noch, aber Leana wußte, daß sie nur Zeit brauchte, all das zu ergründen.

Es ginge ihr besser, versicherte sie Eckart, und doch hielt sie noch wie schutzsuchend seine Hand fest. Plötzlich hatte sie Angst, ihn zu verlieren. „Wirst du diesmal bei mir bleiben?“ fragte sie ihn. Diesmal? Weshalb hatte sie das gesagt?

Arm in Arm waren sie über den Markt geschlendert, und Eckart hatte sich einen guten Platz für seinen Auftritt gesucht. Während er nun spielte, beobachtete Eckart Leana, die im Schatten der Burgmauer am Boden saß und lauschte. Sie blickte in seine Richtung und doch an ihm vorbei. Woran dachte sie, und was hatte ihre seltsame Bemerkung zu bedeuten? Welches Erlebnis hatte sie so verwirrt? Leana blieb ein Rätsel für Eckart. Doch eines wußte er: Er würde bei ihr bleiben und ihr helfen, denn er liebte Leana.

Sie lächelte ihm zu, als er sich wieder in der Melodie verhedderte. Es war sinnlos, Eckart war nicht bei der Sache. Also gab er auf und setzte sich neben sie.

Leana spürte, wie er ihre Hand nahm, und sie war glücklich. Es drängte sie, Eckart zu berichten, was sie über sich erfahren hatte, aber sie wußte, er würde es nicht verstehen können. Als ob sie ein Tor zu ihrem Unterbewußtsein aufgestoßen hätte, waren die Erinnerungen auf sie eingestürmt, und nun lagen sie vor ihr wie ein offenes Buch.

Sie war Mariella gewesen, ein Gauklermädchen, damals vor fast einem Jahrtausend, in einem anderen Leben. Und zugleich hatte sie, Leana, in den Wäldern gejagt, ein intelligentes, halb menschliches Raubtier.

Doch dieses Wissen brachte wieder neue Fragen. Waren es nur Erinnerungen, tote Nachbilder, oder war mit dem Gürtel aus Mariellas Haut mehr von ihr auf Leana übergegangen als die Gestalt und die Phantome des Gedächtnisses? Wieviel von Mariella war in ihr? Wahrscheinlich war es zu spät, das zu ergründen, die Verschmelzung längst zu weit gediehen.

Aber das machte nun nichts mehr.

In der Abenddämmerung saß Leana hoch oben auf den Zinnen eines halb verfallenen, abgesperrten Turms, für Menschen unerreichbar und unsichtbar. Weit unter ihr lagen die Dächer der Stadt, dahinter erstreckten sich Felder, zerschnitten von Straßen und Strommasten. Doch die neue Welt hielt respektvollen Abstand, die bewaldeten Hänge des Burghügels schieden sie vom Mittelalter. Zertrümmerte Befestigungsanlagen am Fuß des Hügels gehörten noch ins zwanzigste Jahrhundert, doch nach oben immer besser erhalten vermittelten sie sanft zwischen den Zeiten. Und unter den Bäumen, wie eine Mahnung der Ewigkeit, lagen verstreut uralte Felsblöcke, die noch hier sein würden, wenn die Zeit Burg und Stadt von der Erde getilgt haben würde. Mariella trat für eine Weile in den Hintergrund, und Leana fühlte sich den Felsen mehr verbunden als den Werken der Menschen.

Der sanfte Wind trieb Musikfetzen und Gerüche zu ihr hinauf. Leana mußte sich ein wenig zur Seite beugen, um in den Burghof zu sehen. Auch von hier oben erkannten ihre scharfen Augen jede Einzelheit. Die Flammen des Feuerspuckers leuchteten im langsam schwindenden Licht intensiver als zuvor. Die Buden waren geschlossen, und die letzten Besucher verließen nach und nach den Markt. Bald würden die Gaukler und Händler, Handwerker und Krämer unter sich sein.

Leana sah Gwenhwyfar neben Eckart stehen. Sie will ihn mir wegnehmen, wie damals! Jetzt konnte sich Leana erinnern. Damals hatte sich Gertrud zwischen sie und Godwin gestellt, und allem Kampf zum Trotz hatte Mariella Godwin verloren. Mariella war verzweifelt gewesen, und diese Erinnerung war es, die Leana noch heute schmerzte. So war Mariella in den Wald gegangen, um die alte Frau zu suchen, von der man sagte, sie könne Liebestränke brauen. Doch statt Hilfe hatte sie in den Händen der grinsenden Alten den Tod gefunden, damit ihre Haut als Material für den magischen Gürtel dienen konnte.

Nun versuchte Gwenhwyfar, sich zwischen sie und Eckart zu stellen, und diesmal mußte sie sterben. Das traf sich gut, denn Leana war ohnehin hungrig. Gut gelaunt stieg sie herunter zum Hof.

Eckart hatte sich schon Sorgen um Leana gemacht, und er schloß sie glücklich in die Arme. Er führte sie zum einem Lagerfeuer, an dem sich schon einige Musiker versammelt hatten, Freunde und Bekannte von Eckart, die er nur wenige Male im Jahr auf solchen Märkten traf. Auch Gwenhwyfar war darunter.

Über den Flammen hing ein Topf mit Suppe, Würste bruzzelten auf dem Rost. Leana verging der Appetit bei diesem Anblick. Sie lehnte den angebotenen Eintopf höflich ab, und von den gegrillten Würstchen aß sie nur eines mit verstecktem Widerwillen. Das Wasser lief ihr im Munde zusammen bei dem Gedanken an Gwenhwyfar, doch im Moment waren nur die rohen Bratwürste erreichbar. Verstohlen nahm sie eine und schlang sie gierig herunter. Eckart hatte es doch bemerkt, und er sah sie befremdet an. „Probier, sie sind gut“, forderte sie ihn auf, aber er schüttelte sich nur.

Leana hatte ihren Kopf an Eckarts Schulter gelehnt und lauschte den Gesprächen. Eckart blickte ins Feuer, die Gesichter ihm gegenüber verschwammen. Seine Gedanken waren bei Leana.

„He, du träumst wohl!“ Gwenhwyfars Stimme riß ihn aus den Gedanken. Was hatte sie ihn gefragt? Eckart wußte es nicht. Ja, er träume wohl schon, entschuldigte er sich und nahm Gelegenheit war, sich für die Nacht zu verabschieden.

Eckart liebte es, bei Anlässen wie diesem stilecht im Stroh zu schlafen. Er hatte sich Sorgen um Leana gemacht, ihr ein Zimmer suchen wollen, aber sie hatte sich geweigert und darauf bestanden, im Freien zu übernachten. Das Wetter war gut, die Luft noch sommerlich warm, und Eckart war froh über diese Lösung. Er hatte ein Lager für sie bereitet, aber nun zog Leana ihn weiter, zum abgesperrten, baufälligen Teil der Burg. In einem geschützten Winkel, weitab von den anderen, hatte sie selbst Vorbereitungen getroffen.

Müde und zufrieden ließ sich Eckart ins Heu sinken. Als er wieder aufblickte, sah er Leanas Silhouette vor dem mondhellen Himmel. Ihr Haar leuchtete im blassen Gegenlicht wie ein Strahlenkranz, und sie war nackt bis auf ihren Gürtel. Sie war schlanker, wohlgeformter, als ihre nachlässig bequeme Kleidung es verraten hatte. Wie eine Raupe, die zum Schmetterling wird, dachte Eckart für einen Moment. Dann hatte sie sich schon über ihn gebeugt, begann sein Hemd mehr aufzureißen als zu knöpfen. Er spürte ihren Atem auf seinem Gesicht, ihre Lippen fanden sich, und Leanas Zunge stieß auf seine. Verwundert spürte Eckart die Schärfe ihrer Zähnen und vergaß sie über die Leanas Reize wieder. Dann lag sie unter ihm, und ihre Haut wirkte im Mondlicht noch bleicher. Eckart streichelte zärtlich ihre runden Brüste, erkundete ihren Körper. Er wollte ihren Gürtel öffnen, aber Leana hinderte ihn daran. Sie schlang ihre Arme um ihn und zog ihn ungeduldig zu sich. Eckart war erstaunt über Leanas Kraft.

Leana wartete, bis Eckart eingeschlafen war, dann stand sie leise auf, um Gwenhwyfar zu suchen. Sie hatte Glück und fand Gwenhwyfar alleine in ihren Schlafsack gewickelt im Schutz einer Marktbude. Für einen Augenblick kämpfte Leana mit dem Impuls, sie hier zu töten, dann weckte sie Gwenhwyfar vorsichtig.

Jenny sah Leana, die ihr bedeutete, still zu sein und mit ihr zu kommen, verwirrt und schlaftrunken an, aber sie folgte ihr. Erst im Torweg flüsterte Leana ihr zu, sie müsse mit ihr über Eckart reden und ihr etwas zeigen. Leana führte Jenny in den Wald zu Füßen der Burgmauer.

Jenny konnte nicht mehr schreien, als Leanas Zähne ihre Kehle zerrissen.

Leana zog sich hastig aus, um ihre Kleidung nicht zu beschmutzen, und stürzte sich so gierig auf auf Jennys Körper, daß sie sogar vergaß, ihren Gürtel zu öffnen. Sie saugte das Blut aus der tödlichen Wunde, dann riß sie das Fleisch von Armen und Beinen. Erst als der grobe Hunger gestillt war, verwandelte sich Leana, bevor sie in Ruhe das Herz und die besten Innereien verspeiste. Schließlich war sie völlig gesättigt und ließ sich die letzten Stücke genüßlich auf der Zunge zergehen. Schade, daß sie nichts als Vorrat mitnehmen konnte.

Sorgsam suchte Leana die Reste zusammen, hob sie einen der Findlinge an, einen Felsblock, den zehn Männer nicht hätten bewegen können, und stieß das, was von Jenny übrig war, darunter. Die Knochen krachten, als der Stein auf sie niedersank, dann wies nichts mehr auf Jennys Verbleib hin. Leana reinigte sich mit Laub, verteilte die blutbefleckten Blätter in der Umgebung und verwischte die letzten Spuren ihrer Mahlzeit. Jennys wenige Habe verschwand unauffällig in den Mülltonnen vor dem Tor. Niemand bemerkte etwas.

Zufrieden legte sich Leana neben dem schlafenden Eckart ins Heu und ergriff liebevoll seine Hand.

Irgendwann am nächsten Morgen fiel Gwenhwyfars Fehlen auf. Doch auch ihre Sachen unauffindbar waren und bald bekannt wurde, daß sie an Liebeskummer gelitten hatte, glaubten alle an ihre Abreise.

Eckart bedauerte es, Gwenhwyfar so weh getan zu haben, aber Leanas Gegenwart lenkte ihn von allen Sorgen ab. Ihre neu gewonnene Fröhlichkeit machte ihn glücklich. Sie verbrachten einen sorglosen Tag auf dem Markt von H., Eckart genoß das große Spiel, träumte sich in eine vergangene Welt und war überzeugt, daß es Leana ebenso ging.

Dann war das Spektakel zu Ende. Die Buden wurden abgebaut, der Zauber des Platzes erlosch in der Hektik des Aufbruchs. Das Mittelalter wurde eingepackt, in Autos verladen und abgeschleppt. Wenige blieben über Nacht und saßen abends noch am einsamen Feuer auf dem leeren Platz. Eckart und Leana waren unter ihnen. Noch einmal schliefen sie in der alten Burg, zehrten von der Romantik des Platzes, als könnten sie einen Vorrat davon anlegen. Und sie liebten sich nicht minder leidenschaftlich als am Vortag.

Die Gegenwart holte die beiden am nächsten Morgen ein. Ein herbstlicher Wind trieb die Abfälle des Wochenendes über den verlassenen Hof, Stroh, Pappbecher und ein Halstuch, das Jenny gehört hatte. Eckart machte sich auf den Heimweg, und Leana begleitete ihn. Ein wenig wunderte er sich über ihre Ungebundenheit, doch sie hatte ihm ja gesagt, daß sie keine Arbeit habe, und Eckart war viel zu glücklich, um über Leana zu rätseln. Zunächst würde sie bei ihm wohnen, und alles weitere würde sich ergeben.

Leana war nicht recht wohl bei dem Gedanken, in Eckarts Behausung zu leben. Würde sie ihr wahres Wesen vor ihm verbergen können? Dennoch sie stimmte zu, denn seine Nähe war ihr wichtiger als alles andere.

Am Abend standen sie vor dem alten Wohnblock, in dem Eckart lebte. Leana war gespannt, was sie erwartete. Durch mehrere Türen gelangten sie auf einen Hinterhof und in einen flachen Anbau. Hier war Eckarts Zimmer, ein niedriger Raum mit überfülltem Bücherregal, Truhe, Schreibtisch und einer breiten Matratze. Die Wände hingen voller Musikinstrumente, Gitarren, Mandolinen und vielen mehr, teils spielbar und teils Dekoration. Dazwischen waren Bilder, Zeichnungen, Graphiken und eine alte Landkarte. Leana sah sich fasziniert um, betrachtete die vertrauten und die fremden Dinge. Der Raum erinnerte sie an eine Höhle, und sie fühlte sich sofort wohl. Die Küche nebenan interessierte sie nicht, aber das Badezimmer wollte sie so bald wie möglich ausprobieren.

Die Gelegenheit ergab sich schnell, und zum ersten Mal in ihrem Leben badete Leana, die zum Waschen nur Eimer und Brunnen oder Bäche und Seen kannte, in einer Wanne. Sie war begeistert, und bald lag sie nach ihrem ersten Schaumbad, zwar nicht sauberer, den reinlich war sie schon immer gewesen, wohl aber duftiger als je zuvor, auf dem Bett und erwartete Eckart.

Er fand sie nackt, nur mit dem unvermeidlichen Gürtel bekleidet, und mit auffordernd gespreizten Beinen. Kurz darauf wälzten sie sich lachend über das Bett. Eckart hob sie hoch, drehte sie auf den Rücken und lag gleich darauf wieder unter ihr. Amüsiert stellte Leana fest, wie sehr die Situation einem Kampf ähneln mußte. Einem Kampf, in dem Eckart, wäre er ernst gewesen, nicht die Spur einer Chance gehabt hätte. Sie ergriff seine Handgelenke, drückte sie auf die Matratze, und erkundete mit ihren Lippen seinen Körper. Neugierig, ihn auf neue Art kennenzulernen, schmeckte sie ihn, leckte an ihm und saugte an seinen Brustwarzen. Als sie seine Kehle erreicht hatte, schloß sie ihre Kiefer, bis ihre Zähne sanft seine Haut berührten. Wie zerbrechlich, wie verletzlich er doch war! Aber es blieb beim Kuß, sie ließ ihn los, ließ sich wieder von ihm herumwirbeln.

Eckart gewöhnte sich in der folgenden Zeit langsam an Leanas Eigenarten. Er akzeptierte, daß sie sich nie von ihrem geheimnisvollen Gürtel trennte, daß sie keine Verwandten, keine Freunde hatte, auch keine Arbeit, und daß ihr doch das Geld nie ausging. Einmal war ihm die Möglichkeit in den Sinn gekommen, Leana könne ihren Lebensunterhalt auf der Straße verdient haben, aber er verwarf diesen Gedanken, ärgerlich über sich selbst, sofort wieder. Nicht Leana! Es gab einfach Dinge, die waren undenkbar.

Nach wenigen Wochen hatte er es fast aufgegeben, Fragen zu stellen. Nichts desto trotz verwunderte sie ihn immer wieder aufs neue. So hatte Leana nichts zum Anziehen mitgebracht als das, was sie trug. Nun kaufte sie sich einige neue Sachen, und oft waren es, gelinde gesagt, überraschende Farbkombinationen, die sie sich aussuchte. Ihr liebstes Stück wurde schließlich eine schwarze Lederhose, die sie mit verschiedenen luftigen Blusen kombinierte. Das Wetter und die Temperaturen spielten dabei für Leana keine Rolle, sie fror nicht und störte sich nicht am Regen.

Eckart sorgte sich um sie, denn immer wieder kehrte sie auch über Nacht nicht heim und blieb gelegentlich sogar zwei Tage aus. Wenn sie dann wiederkam, hatte sie ihm immer etwas mitgebracht. Mal war es eine alte Geige, wurmstichig und unbrauchbar, dann ein bunt bebildertes Buch, und einmal eine wunderbare erotische Holzplastik, die Eckart nicht aufzustellen wagte. Seine Neugier brachte Leana mit ihrer leidenschaftlichen Liebe rasch zum Schweigen.

Leana versuchte, so wenig wie möglich aufzufallen. Schnell hatte sie einsehen müssen, daß sie die Menschen weniger kannte, als sie es geglaubt hatte. Aber es war ohnehin vergeblich, sie konnte nicht leben wie sie, und sie wollte es auch nicht. Was sie wirklich betrübte war, daß sie Eckart nicht die Wahrheit über sich sagen konnte. Es drängte sie, ihm zu antworten, aber sie wußte nicht, wie. Vielleicht würde er früher oder später ohnehin von alleine dahinterkommen. Gestern hatte er, als sie gähnen mußte, ihr furchterregendes Gebiß zum ersten Mal im ganzen gesehen. Obwohl sie ihm seine Verwunderung angesehen hatte, verlor er kein Wort darüber, und das hatte Leana mehr geschmerzt, als eine Frage es vermocht hätte. Irgendwann, so wußte Leana, würde mit dem Bedürfnis, sie zu kennen, ihr Vertrauen zu genießen, auch seine Liebe zu ihr verlöschen. Sie durfte sich nicht mehr lange vor ihm verstecken.

Aber was sollte sie ihm sagen? Sie war für die Menschen ein Ungeheuer! Daß in der Nachbarschaft ein Kind verschwunden war, brachte Eckart nie mit Leana in Verbindung, aber wie sollte er auch. Sorgfältiger als je zuvor versteckte sie die Reste ihre Beute, gleich ob Mensch oder Tier, achtete sie auf Abstand zu ihrer Wohnung, auch wenn sie Eckart deshalb lange alleine lassen mußte. Beim gemeinsamen Essen naschte sie die Wurst vom Brot und das Fleisch aus dem Eintopf. Eckart, der eigentlich auf halbem Wege war, Vegetarier zu werden, hatte es nicht leicht mit ihr.

Der Moment der Offenbarung kam auch Leana überraschend. Sie hatte im Hof eine Maus gefangen und ihr gerade den Kopf abgebissen, als Eckart die Tür öffnete. Hastig, aber zu spät verbarg sie das blutige Tier hinter ihrem Rücken.

Eckart hörte noch das Knirschen der Knochen. Leana schluckte und ließ den Rest fallen. Er starrte sie entsetzt an und wußte nichts zu sagen. Für einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber. Leanas Gesicht verriet Eckart, daß sie um nichts minder erschrocken war. Dann trat sie auf ihn zu, ergriff seine Hand, und er kämpfte gegen den Reflex, sie zurückzuziehen. Er zuckte nur.

„Ich muß dir viel erklären“, sagte Leana kleinlaut, und Eckart ließ sich von ihr hinein führen.

Was folgte, erschien Eckart wie ein Traum. Sie sei kein Mensch, hörte er sie sagen, nur ein Zauber ermögliche es ihr, diese Gestalt anzunehmen, und in Wirklichkeit sei sie ein Raubtier, das von Fleisch lebe. Eckart wußte, daß das unmöglich war, und zugleich wußte er, daß sie die Wahrheit sprach. Warum erwachte er nicht? Es war zwecklos, sich anderes einzureden, er war wach.

Dann zog sich Leana aus, und mit zitternden Fingern öffnete sie die Schnalle ihres Gürtels. Eckart sah verzweifelt zu, wie das Mädchen, das er liebte, zu einem Ungeheuer wurde. So kam es ihm zumindest vor, als sich ihre Hände zu Klauen verformten, ebenso scharf bekrallt wie ihre Füße, schuppig wie die einer Echse. Er erwartete, in wenigen Augenblicken einem mörderischen Monstrum gegenüberzustehen, wollte fliehen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht.

Doch so unerwartet, wie sie begonnen hatte, kam die Verwandlung zum Stillstand. Eckart blickte in Leanas Gesicht, jetzt kräftig rosagrau statt blaß, aber noch immer vertraut. Nur ihre Augen waren anders, fast ohne weiß, die Iris grüner als zuvor, und mit geschlitzten Pupillen. Als sie den Mund öffnete, sah er die Reißzähne.

„Ich bin es noch, Leana, und ich liebe dich noch immer!“

Es war ihre Stimme, die ihn aus seiner Starre riß. Ein verzweifelter Ruf nach Verständnis lag darin, und vielleicht war es die Erkenntnis, daß das Wesen vor ihm Furcht spürte, die ihn daran hinderte, davonzulaufen.

Statt dessen sah er sie sich genauer an. Wirklich, es war noch immer Leana. Sie war zur Hälfte Tier, aber auch zur Hälfte Mensch. Eckart streckte vorsichtig seine Hand nach ihrer Klaue aus, wagte es aber nicht, sie zu berühren. Leana kam ihm zögernd entgegen, und Eckart zuckte zusammen, als sich ihre Finger sanft um seine schlossen. Zu seiner Überraschung war ihre Berührung angenehm, warm und weich. Er fühlte die Schuppen, aber sie waren glatt und geschmeidig, ein wenig wie Leder. Ob sich Schlangenhaut so anfühlte? Ihre Krallen waren scharf, und Eckart spürte die tödliche Kraft, die in ihnen lag. Jetzt aber strichen sie vorsichtig über seinen Arm, erwiderten seine zaghaften Versuche, Leanas wahren Körper zu erkunden. Eckarts Angst wich der Neugier und dann der Faszination. Seine Hände glitten über ihre Reptilienschuppen hinauf, ertasteten die zarte menschliche Haut ihrer Oberarme, der Schultern und der Brüste. Leanas Leib war heiß, sie schien von innen zu brennen. War das eine Folge ihrer Verwandlung? Für einen Moment kam Eckart das Feuer der Hölle in den Sinn. Unfug, Leana war kein Dämon!

Eckart hielt inne und sah ihr in die faszinierenden, katzenhaften Augen. „Ich liebe dich, Leana!“

Er schloß sie in die Arme und bemerkte nicht einmal, daß sie sein Hemd zerfetzte, als sie, den Blick von Freudentränen getrübt, seine Geste erwiderte. Sie sanken aufs Bett, und mit einem Geschick, das Eckart ihren Klauen nicht zugetraut hatte, half sie ihm, sich zu entkleiden. Er fühlte ihre erhitzte Haut auf seiner, spürte ihre Kraft, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Ihr Schwanz strich über Eckarts Rücken und wand sich dann um sein Bein. Fordernd drang ihre Zunge in seinen Mund, und er erkundete ihr noch bedrohlicher gewordenes Gebiß mit seiner. Dann betasteten ihre Lippen saugend und liebkosend seinen Körper, während er den ihren schmeckte. Leanas Klauen streichelten ihn indessen so sanft, wie es Hände kaum besser vermocht hätten. Eckart wurde von einer Welle des Glücks hinweg gespült, und plötzlich bog sich ihr auch muskulöser Leib, während sie einen Schrei der Lust ausstieß. Leanas Schwanz peitschte die Luft, ihre Klauen bohrten sich in Eckarts Haut, und winzige Blutstropfen quollen hervor, bevor sie sich wieder entspannte. Sie wälzten sich weiter über die Matratze. In ihrer neuen Gestalt war Leana noch gieriger, noch fordernder als zuvor, und sie erschöpfte seine Kraft, lange bevor ihre eigene schwand.

Sie blieben noch lange danach auf dem Bett liegen. Eckart versuchte vergeblich, seine Gedanken zu ordnen. Mehr als einmal mußte er sich davon überzeugen, daß Leana wirklich das Zauberwesen war, als daß sie sich ihm nun offenbart hatte. Wirklich, sie lag schlafend neben ihm, ein Raubtier in der Gestalt einer Frau. Er strich liebevoll über ihre Schuppenhaut, und ihr Schwanz regte sich und schmiegte sich an sein Bein. Sein Kopf schien ihm leer, und die Gedanken drehten sich ruhelos im Kreis. Sie war unmöglich und es gab sie, sie war ein Ungeheuer und er liebte sie doch, er mußte sie schützen und verstecken, aber das hatte sie seit Urzeiten selbst vermocht. Hatte sie wirklich von Jahrtausenden gesprochen? Was für ein Wesen war sie? Endlich fiel er in einen unruhigen Schlaf.

Als er erwachte und Leana über sich gebeugt fand, erschrak er noch ein letztes Mal über ihr Aussehen. Mit ihren bekrallten Fingern reichte sie ihm ein Tasse dampfenden Tees.

Leana war glücklich über das Ende des Versteckens, und sie war erleichtert über Eckarts Reaktion. Er hörte gebannt zu, als sie ihm nun ihre Geschichte erzählte. Sie führte ihn zurück, soweit sie sich selbst entsinnen konnte, in endlose Wälder, in vergessene Zeiten und schließlich auch in Mariellas Leben. Leana bewahrte sich nur ein letztes Geheimnis: daß sie Menschenfleisch fraß. Es war nicht nur, daß sie nicht wagte, es Eckart zu sagen, da war noch etwas. Zum ersten Mal in ihrem Leben schämte sie sich dafür. Vor ihr saß ein Mensch, den sie liebte, wie konnte sie sich dann von seinesgleichen ernähren?

Aber das war nicht die Zeit für solche Gedanken. Leana blühte auf, in beiden Gestalten.

Eckart wandelte durch den Alltag wie durch einen Traum. Nun war es kein Spiel mehr, nun war er wirklich Ritter Eckart, der seine verwunschene Prinzessin gefunden hatte. Es war die Wirklichkeit, die plötzlich unrealistisch erschien, deren Sinn er in Frage stellte, auch wenn er wußte, daß er darin leben mußte. Er versuchte, ihre Welt kennenzulernen und zu verstehen.

Erst hatte Leana sich gescheut, Eckart auf ihren nächtlichen Streifzügen mitzunehmen. Bald aber fand sie selbst Gefallen an gemeinsamen Wanderungen durch dunkle, menschenleere Wälder, weit von der Stadt und abseits der Wege. Hier konnte er vielleicht erahnen, woher sie kam, wie sie fühlte. Er lauschte ihren Erzählungen, den Erinnerungen, die in der vertrauten Umgebung wie Lichtblicke im Vergessen auftauchten, von jenem Stamm, der sie als Göttin verehrt und ihr geopfert hatte, von der Einsamkeit der Berge fernab der neu entstehenden Zivilisation und von der Ausbreitung der Menschheit.

Sie tobten und tollten durch das Laub, rannten und spielten. Leana hetzte ihn, holte ihn ein und stürzte sich auf ihn, um spielerisch ihre Zähne um seine Kehle zu schließen, während ihre Krallen sein Haar zerzausten. Nur um zu Jagen, ließ Leanas ihn alleine zurück. Eine Stunde oder zwei mußte er dann warten, bevor er sie wieder in die Arme schließen konnte. Beim ersten Mal war er erschrocken über ihren Kuß, der noch salzig, nach Blut geschmeckt hatte. Aber dieses Zeichen ihrer Wildheit erregte ihn auch, entfachte seine Leidenschaft, und sie liebten sich unter dem Blätterdach, bis der Morgen anbrach.

Einmal nur überraschte Eckart sie mit ihrer Beute. Zufällig hatte er beim ziellosen schlendern die selbe Richtung eingeschlagen wie sie, und im hellen Mondlicht fand er Leana am zerfleischten Körper eines Rehs, der noch in der kühlen Herbstluft dampfte. Er zog sich diskret zurück, unsicher, ob sie ihn bemerkt hatte oder nicht. Eckart verlor kein Wort darüber, aber insgeheim begann er, sich Sorgen um Leana zu machen. Gewiß, sie verstand es, in der Wildnis zu überleben, aber was, wenn sie entdeckt würde, wenn ein Förster sie aufspüren würde?

Und eines Tages war es soweit. Eckart döste im Laub, schaute halb schlafend hinauf zu den Sternen, die durch das frisch ergrünte Blätterdach blinken, als ein Schuß ihn aufschreckte. Sofort war er hellwach. Noch einmal krachte es, dann hörte er einen gellenden Schrei. Das Echo hallte von den Bergen wider, und er konnte es nicht orten. Verzweifelt, voller Angst um Leana, irrte er suchend durch das Unterholz, stolperte und raffte sich wieder auf. Lebte sie noch, brauchte sie seine Hilfe? Kein Laut war mehr zu hören. Sie mußte entkommen sein, sie mußte! Doch hätte er dann nicht neue Schüsse, Rufe des Verfolgers hören müssen? Eckart wußte nicht, wie lange er gerannt war. Hätte er sie nicht längst auf sie stoßen müssen, auf seine geliebte Leana oder ihren Mörder? Er kehrte um, lief orientierungslos in die andere Richtung. Die Zeit schien endlos.

Leana war es schließlich, die ihn fand. Überglücklich schloß er sie in die Arme, dann versuchte er, sie in die schützenden Büsche zu ziehen. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn beruhigt hatte. Sie sei in Sicherheit, überzeugte sie ihn, den Jäger habe sie in die Flucht geschlagen. Als Eckart sie küßte, schmeckte er das Blut auf ihren Lippen, und er ahnte nicht, wem es gehört hatte.

Es war spät in der Nacht, sie lagen noch immer im Gras, wo sie sich lange und leidenschaftlich geliebt hatten. Leanas Krallen strichen sanft über Eckarts nackte Haut. Sie war zufrieden, hatte alles, was sie zum glücklich sein brauchte, und mehr als das. Selbst Mariellas Träume hatten sich nach Jahrhunderten erfüllt. Leanas Gedanken schweiften zurück. Die alte Hütte, mehr Versteck als Heimat, schien zu einer fernen Vergangenheit zu gehören. Sie lebte nicht mehr neben, sondern in der Welt der Menschen, sie lernte von ihnen und es gelang ihr, sich ihnen anzugleichen, um sich besser zu tarnen als je zuvor. Leana mußte schmunzeln. Ein perfektes Raubtier, und dabei hatte sie seit Monaten keinen Menschen mehr gefressen, außer jenem Förster, der vor Wochen zufällig über sie gestolpert war. Leana öffnete die Augen und wandte sich wieder Eckart zu. Sie war mehr sie selbst als je zuvor. Ihre Zunge fuhr über die Fangzähne. Ein Biß nur - aber statt dessen küßte sie ihn. Eckart war der einzige Mensch, der vor ihr sicher war. Er schlang seine Arme um sie, und eine Welle von Verlangen durchströmte Leana.

Die Kühle des Frühlingsmorgens vertrieb die beiden von ihrem Lager. Durch den Gesang der Vögel drangen die Geräusche der Straße und zerstörten die Illusion der Idylle. Sie machten sich auf den Heimweg.

„Bald werden wir weit weg von hier sein“, hörte sie Eckart sagen.

Eckart hatte eine Reise geplant, und nun erzählte er Leana schwärmerisch unberührter Natur, von Wanderungen durch menschenleere Urwälder und von kristallklaren Seen. Sie würden gemeinsam die Wildnis durchstreifen, weitab von der Zivilisation. Leana ließ sich von seiner Begeisterung anstecken, obgleich sie wußte, daß es nur eines jener kleinen Reservate sein konnte, das sie besuchen würden. Doch selbst wenn es nur ein Traum sein würde, sie teilte Eckarts Freude. Sie würden ihn gemeinsam träumen. Aber Leana spürte auch, daß etwas Eckart bedrückte.

Schließlich erwähnte Eckart seinen alten Freund Gerhard. Ob es Leana stören würde, wenn er sie begleiten würde, fragte Eckart vorsichtig. Er hatte Gerhard die Reise versprochen, noch bevor er Leana begegnet war. Eckart versicherte ihr, daß sie nach nur zwei Wochen mit Gerhard noch genügend Zeit für sich haben würden. Es würde trotzdem schön werden, und sie würde ihn mögen.

Leana sagte nichts, doch in ihr gärte es. Wieder würde sie sich verstecken müssen, wieder ein Spiel aufführen, diesmal für Gerhard. Begann Eckarts Umgebung nun, zwischen sie zu treten, so wie Leana es lange befürchtet hatte? Sie mußte es verhindern, wenn sie ihn nicht verlieren wollte. Jetzt aber lächelte sie, freute sich mit Eckart auf den Urlaub und ließ sich nichts anmerken.

Eine Woche hatte sie geplant, Zeit und Ort bestimmt. Eckart durfte nichts davon ahnen. Leana lauerte Gerhard auf, und sie überredete ihn, ihr zu folgen. Sie brauchte nicht einmal einen Vorwand, es genügte, ihm zu versichern, daß es wirklich wichtig sei. Alles war so einfach, und er war so naiv. Wieder kam der tödliche Biß so schnell, daß ihrem Opfer keine Zeit zur Gegenwehr blieb. Schade, dachte Leana, denn sie liebte die Jagd. Doch als das Blut, von den letzten Schlägen des erlahmenden Herzens getrieben, in ihren Mund strömte, fühlte sie sich für das entgangene Vergnügen entschädigt. Es war so lange her, daß sie menschliches Fleisch geschmeckt hatte. Wie hatte sie es nur entbehren können? Wie in einem Rausch schlug sie sich den Bauch voll.

Mord! Plötzlich war dieses Wort in ihren Gedanken und wollte nicht mehr weichen. Leana hatte ihren ersten Mord begangen. Unsinn, sie hatte gefressen, so wie sie es immer getan hatte. Nein, diesmal war alles anders. Mochte das Töten auch dasselbe gewesen sein wie immer, früher hatte sie als Raubtier getötet, aus Hunger, und wenn der Tod des Opfers ihr gelegen kam, um so besser. Und jetzt hatte sie Eckarts Freund zerrissen, um Eckart nicht mit ihm teilen zu müssen. Aber war sie nicht noch immer ein Raubtier? Menschliche Moral konnte für sie doch nicht gelten.

Leana ging nicht wie gewohnt nach Hause zu Eckart. Statt dessen streunte sie ziellos umher, in düstere Grübeleien versunken. Es dauerte eine Weile, bis sie sich endlich eingestand, daß sie längst wußte, was sich geändert hatte. Seit sie sich Eckart offenbart hatte, hatte Leana eine Illusion genährt. Anstatt unverstellt zu leben, wie sie es hatte glauben wollen, hatte sie sich Eckart zuliebe den Menschen angepaßt. Und nun hatte sie ein menschliches Verbrechen begangen. Wie sollte es weitergehen?

In einem Anfall verzweifelter Wut zog sie sich aus und löste den Gürtel. Sie war zwar im Wald, doch es war Tag, und die Stadt war nahe. Aber Leana blickte sich nicht einmal um. Sollte sie doch jemand entdecken! Sie wünschte es sich sogar, und sie würde ihn mit Freude zerreißen.

Für einen Augenblick erwog sie den absurden Einfall, sie könne Eckart auf den Geschmack bringen, wenn sie ihm frisches Menschenfleisch mitbrächte. Wie sie es auch wendete, es lagen Welten zwischen ihnen. Vor kurzem hatten sie seinen Geburtstag gefeiert, den fünfundzwanzigsten. Kein halbes Jahrhundert mehr, dann würde ihn das Alter besiegen. Eine lächerlich geringe Spanne! Dabei war er fast noch ein Kind, bar jeder Erfahrung, unfähig, ein Wesen wie sie zu verstehen, so sehr er es auch versuchen mochte. Also mußte doch sie sich ihm nähern, mit Mariellas Einblick in die menschliche Seele. Allein, war gerade das nicht der Fehler gewesen?

Die Leichen der alten Frau und des Kindes hatte sie kaum versteckt, irgendwann, bald sogar, würde man sie finden. Würde es in der Zeitung stehen, würde Eckart es mit ihr in Verbindung bringen? Und Gerhards Verschwinden? Dann würde der der Gang der Dinge ihr wenigstens eigene Entscheidungen abnehmen. Nein, sie mußten verreisen, auch wenn es nur eine Flucht vor der Zeit sein würde. Vielleicht würde sich dann ein Weg finden. Gewiß war, daß sie Eckart nie aufgeben würde.

Eckart war erleichtert, als er sie endlich wieder in die Arme schloß. Leana war schon lange nicht mehr tagelang fort gewesen, und Eckart hatte sich bereits ausgemalt, was ihr zugestoßen sein könnte. Sie entzog sich ihm sanft, und er fand sie, still weinend, auf dem Bett liegend.

„Ich liebe dich so“, antwortete sie nur, als er sie fragte, was ihr fehle.

Er legte sich zu ihr, umarmte sie und versuchte, sie zu trösten, aber Leana blieb steif und teilnahmslos. „Was fehlt dir, Liebling?“ wollte er wissen, doch sie blieb stumm. „Wir bleiben beieinander, wir fahren ohne Gerhard, ganz alleine“, versprach er ihr, und er verstand nicht, warum er nur einen neuen Strom von Tränen auslöste.

Auch Eckart hatte die einsamen Tage mit Nachdenken verbracht. War es nicht ein naiv, zu denken, er könne weiterleben wie bisher, mit einem Fabelwesen im Haus als Ersatz für das, was er vom Leben erträumte und nicht zu verwirklichen wagte? Wie er es auch wendete, er würde sich entscheiden müssen, wählen zwischen Gewohnheit und Sicherheit auf der einen und seinen Träumen auf der anderen Seite. Der Bruch war unvermeidlich, wenn er mit Leana glücklich werden wollte. Ausstieg, das war ein schönes Wort, billig, solange es nur historische Spiele betraf, aber was war seine wahre Bedeutung? Würde er den nötigen Mut aufbringen?

Beim Essen saß er Leana gegenüber und beobachtete, wie sie appetitlos und gedankenverloren mit den rohen Fleischstücken spielte. Natürlich, sie war satt von der Jagd. Dann blickte Eckart auf seinen eigenen Teller, und plötzlich erschien es ihm dekadent, naturfremd, ja lächerlich, gebratenes, bis zur Unkenntlichkeit gewürztes und zubereitetes Schnitzel zu essen. Er schaute ihr in die Augen und fragte sich, was sie über ihn denken mochte.

'Vermißtes Kind von Tier getötet', so lautete die Schlagzeile schon zwei Tage später. Also hatte man das Kind gefunden. Leana zerknüllte die Zeitung, obgleich sie wußte, wie sinnlos es war. Eckart würde es doch erfahren. Vielleicht würde er sich noch eine Weile weigern, die Zusammenhänge zu erkennen, aber irgendwann würde er es erkennen. Konnte er sie verstehen? Nein, die Wahrheit würde sich zwischen sie stellen.

Ihre gemeinsame Zeit konnte also nicht mehr lange währen, damit mußte sie sich abfinden. Leana versuchte, jeden verbleibenden Moment so intensiv wie möglich zu erleben, in sich aufzunehmen, als könne sie ihn speichern.

In verzweifelter Leidenschaft sog sie den Duft seiner Haut ein, kostete sie den Geschmack seiner Küsse, fühlte bewußter als sonst seine Berührung, als wäre es das erste Mal. Doch nicht einmal der lustvolle Schauer ihrer Vereinigung konnte sie die drohenden Schatten vergessen lassen. Könnte sie ihn doch umfließen, um ihn mit jeder Faser ihres Körpers zu spüren. Seine Hände und seine Lippen wanderten liebkosend und verlangend über sie, noch unbelastet von Zweifeln. Wie lange noch?

Tränen liefen über Leanas Wangen, als sie befriedigt in die Kissen sank. Sie durfte ihn nicht verlieren, nicht jetzt und nicht später. Nie! Es gab nur eine Lösung.

Ihre Zähne näherten sich langsam seiner Kehle. Eckart spürte einen heißen, brennenden Schmerz. Leanas Lächeln war das letzte, was er sah.

Leana strich zärtlich über ihren neuen Gürtel, der sie für immer mit Eckart verbinden sollte. Sie liebte Eckart, und sie würde ihn nie verlieren! Leana schloß die Augen und ließ die neuen Erinnerungen fließen.

Diese Geschichte ist bereits in der Zeitschrift Nocturno (Nr. 2, 2001) erschienen.

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