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Die Metazeitmaschine

Käpt'n Lancelot Smith stand am Steuerrad und starrte angestrengt hinaus in den dichten Schneesturm. Nichts war zu erkennen. Die Böen peitschten die Flocken gegen die Scheiben, schüttelten die Albatros und ließen sie trotz ihrer Größe schwanken und rollen wie ein Schiff auf See. Hinter dem großen hölzernen Rad stehend, mit seinem schmalen Vollbart, der ein kantiges Kinn umrahmte, dem hageren Gesicht und der Pfeife wirkte Lancelot Hercules Siegfried Hannibal Amadeus Smith wie der Kapitän eines alten Segelschiffes. Seine Pfeife enthielt zwar keinen Tabak, aber wenn er angespannt war, hielt er noch immer an dieser alten Gewohnheit fest. Lancelot steuerte einem neuen Windstoß entgegen und kontrollierte den Kurs mit Kompaß und Radar. Der Bildschirm zeigte eine dreidimensionale Darstellung der Landschaft, der Berge und Täler der peruanischen Anden. Für einen Moment teilte sich die wirbelnde weiße Masse des Schnees und gab den Blick auf die wirklichen Berge tief unten frei, dann schien die Albatros wieder im Nichts zu schweben. Der Orkan packte das Luftschiff so heftig, daß das Holz der Täfelung leise knarrte.

„Vergiß es!“

Lancelot fuhr herum. Er hatte Tilly nicht eintreten gehört. Sie stand direkt hinter ihm und legte die Hand auf seine Schulter. Tilly Winter mit ihrem kurzen, schwarzen Haar wirkte viel jünger als der bereits ergrauende, immer ernst scheinende Lancelot, obgleich beide nur wenig mehr als dreißig Jahre alt waren.

„Lance, ich weiß ja, daß du Stürme magst. Aber das hat doch keinen Zweck.“ Ungeduld lag in ihrer Stimme. „Laß es uns morgen versuchen.“

Der Kapitän seufzte. Tilly hatte recht, an eine Landung war nicht zu denken. „Hast du den Kurs schon eingegeben?“ Er wußte, daß sie das bereits getan hatte.

Sie nickte und trat an das Computerterminal an der hinteren Wand. Ein Tastendruck startete die bereits programmierte Zeitmaschine. Das Heulen des Sturms verklang, und nur noch das leise Summen der Motoren war zu hören. Der undurchdringliche Nebel der Zeit ersetzte für einen Moment das Schneetreiben, um dann einem blauen Himmel Platz zu machen.

Der Sturm hatte nachgelassen, aber noch immer jagten weiße Wolken an der Albatros vorbei, wandelten ihre Formen, wurden zerrissen und neu zusammengefügt. Die Berge der Cordillera Vilcabamba waren von frischem Schnee bedeckt, in den der dunkle Fels der steilen Hänge ein unregelmäßiges Muster zeichnete. Der kleine Ort San Miguel del Luz unten im Tal war nur an dichten Rauchwölkchen der Kamine zu erkennen.

„Na also“, sagte Tilly und ergriff selbst das Steuer, während Lancelot aus dem Fenster auf die nun so friedlich wirkende Landschaft schaute. In weitem Bogen umrundete sie das Dorf, um dann außer Sichtweite tiefer zu gehen und in den Schutz der Bergketten einzutauchen. Diese Landschaft im abgelegenen peruanischen Hochland war selbst im Sommer menschenleer. Nur wenige Indianer bekamen die silbrige Zigarre des Luftschiffs hin und wieder zu sehen und erzählten sich seit Jahrhunderten Geschichten vom geheimnisvollen Gefährt des Gottes Quetzal. Hier war die Albatros sicher.

Der Wind wirbelte den lockeren Neuschnee über den Kamm, der die hohe Felswand krönte, auf die Tilly nun zusteuerte. Das große Schiff schien plötzlich winzig und verloren vor dem gewaltigen Massiv. Die Gondel war ein wenig einem alten Segelschiff nachempfunden, mit einem Bugspriet, einem Vorderdeck und einer umlaufenden Reling, und die Hülle, die die Farben der Umgebung reflektierte, wirkte wie ein überdimensional geblähtes Segel.

Eine Signalton erklang, eine Kontrollampe leuchtete auf, und die Steilwand vor der Albatros teilte sich. Zwei gewaltige Abschnitte des Felsmassivs schwenkten langsam nach innen und gaben die Einfahrt zu einer geräumigen Höhle frei. Das Luftschiff glitt hinein, und die Tore schlossen sich wieder. Von außen war nun nichts mehr zu sehen.

Die Beleuchtung flammte auf, während sich die Gondel langsam senkte und sanft aufsetzte. Hohe Säulen hoben sich als Relief von der dazwischen nur grob behauenen Wand ab und verloren sich oben im Schatten. Einen Meter über dem glatten Boden lief ein Fries mit geometrischen Mustern um die gesamte Halle. Vor über 1000 Jahren war diese Halle erbaut worden, in einer einmaligen Gemeinschaftsarbeit modernster Laserbohrer des 21. Jahrhunderts und des von seinem tyrannischen Herrscher befreiten Volkes von Machu Pichu. Sie hatten darauf bestanden, ihren Rettern einen Dankesdienst zu erweisen, und die Zeitreisenden hatten diese sichere Operationsbasis schnell schätzen gelernt.

Die Tür glitt automatisch zur Seite und gab den Weg in die weniger monumentalen, wohnlicheren Bereiche frei. Lancelot eilte wie immer voran, und Patrick Dubois, Nicodemus von Korinth und Isabella al-Farid folgten ihm. Nur Tilly Winter hielt sich demonstrativ zurück, als sich die anderen um den Hauptcomputer scharten. Nicht, daß sie nicht auch erfahren wollte, was sich durch ihre Reisen im Ablauf der Zeit geändert hatte, aber sie hielt sich aus Prinzip vor dieser hektischen Art der Neugier zurück, vielleicht aus Ehrfurcht vor der Geschichte, vielleicht aber auch einfach aus einem Bedürfnis nach Opposition heraus. Nicht zuletzt aber mochte Tilly den Computer nicht, und der Grund dafür war sein Name. Nach einem seiner Lieblingsbücher hatte Lancelot die Maschine ‘FUCKUP’ genannt, wie Hagbard Celline jenen Computer aus ‚Illuminatus!‘-Trilogie. Tilly hatte protestiert, aber Patrick, der Schöpfer der Maschine, hatte begeistert zugestimmt.

FUCKUP, der automatisch sogar quer durch die Zeit mit allen Datenbanken kommunizierte, die historische Fakten enthielten, gab diesmal nur eine kurze Liste aus. Der Sturm auf die Bastille hatte sich um einen Tag verspätet, und ein gewisser Helmut Kohl hatte im Deutschland des ausgehenden 20. Jahrhunderts eine Wahl gewonnen und war Kanzler geworden. Patrick schüttelte den Kopf. Es war schon seltsam, über welche verschlungenen Pfade in der Geschichte Ursache und Wirkung zusammenhingen. Die Zeitreisenden hatten sich diesmal lediglich für zwei Tage im Grönland der Zeitwende aufgehalten.

Dann suchte der Computer routinemäßig alle wissenschaftlichen Dateien und Zeitungsarchive nach Stichworten wie ‘Zeitmaschine’, ‘Metazeit’ und anderen Begriffen ab, die irgendwie darauf hindeuten konnten, daß ein anderer die Erfindung wiederholen könnte. Doch bislang hatte sich diese Befürchtung als unbegründet erwiesen, und eigentlich hielten die Reisenden es auch für unmöglich, daß die Kette von Zufällen, die Lancelot auf die richtige Spur gebracht hatten, ein zweites Mal auftreten könnte. So hatten sich auch alle Meldungen, die FUCKUP bislang ausgespuckt hatte, als Unsinn erwiesen.

Auch diesmal hatte die Suche nur in einer Boulevardzeitung Erfolg. Typisch Sommerloch, dachte Lancelot. Leicht amüsiert las er die Schlagzeile aus der ‘Edinburgh News’ von 2007 A.D. vor, die lautete: ‘Zeitmaschinenbastler bei Explosion getötet’. Dann hielt er inne. In eben diesem Jahr hatte doch er selbst in Edinburgh das Prinzip der Zeitverschiebung entdeckt. Er ließ sich den vollständigen Artikel ausgeben. Ihm stockte der Atem, als er seinen Namen entdeckte.

‘Bei einer Explosion in einem Labor des physikalischen Instituts wurden in der gestrigen Nacht die Studenten Lancelot Smith, Patrick Dubois und Mathilda de Winter getötet. Die Ursache des Unglücks konnte noch nicht ermittelt werden. Während die Polizei von einem Unfall ausgeht, meinte ein Kommilitone der Opfer (der Name ist der Redaktion bekannt), daß Konkurrenten oder sogar Geheimdienste hinter dem Anschlag stehen könnten. Der als genialer Exzentriker bekannte Smith arbeitete an der Konstruktion einer Zeitmaschine. Pläne und Formeln seiner Erfindung wurden nicht gefunden. Sind sie verbrannt oder gestohlen?’

Fassungslos starrten die drei auf den Bildschirm und lasen die Meldung wieder und wieder. Ein Irrtum war nicht möglich. Dies war ihre eigene Todesmeldung!

Nicodemus fand als erster die Sprache wieder. „Aber das ist doch Unsinn! Ihr lebt doch noch.“

Tilly wandte sich um. „Ja.“ Sie schien den Sinn des ganzen noch nicht zu erfassen.

„Zumindest konnten wir kaum ein eindrucksvolleren Beweis für das Metazeitkonzept finden als diesen“, bemerkte Lancelot kühl, ohne sich vom Monitor abzuwenden. „Es tritt eindeutig kein Zeitflimmern auf.“

„Wie kannst du so etwas sagen?“ entrüstete sich Isabella. „Ihr seid gestorben, und du denkst an Physik! Was passiert jetzt?“

„Nichts.“ Lancelot bearbeitete hektisch die Tastatur. Der Schriftzug ‘Pfad offen - Suche läuft’ erschien auf dem Terminal. „Ich versuche lediglich, zu verstehen, was da passiert ist. Ah, hier kommt noch etwas. Eine Meldung vom nächsten Tag.“

‘Explosionsursache ungeklärt - Warum schweigt Scotland Yard? Keine neuen Erkenntnisse konnte oder wollte Scotland Yard über die Art der Bombe vorlegen, die vorgestern mehrere Laborräume der Universität völlig zerstörte und drei Studenten tötete. Die Heftigkeit der Explosion und der Mangel an Spuren deuten nach Angaben von Inspektor Graves von der edinburgher Polizei auf einen Anschlag hin. Die Wohnungen der ermordeten Studenten wurden inzwischen durchsucht. Smith, der innerhalb der Universität den Ruf eines einfallsreichen Spinners genoß, hatte vor einigen Monaten behauptet, eine Zeitmaschine erfunden zu haben. Obwohl ihm niemand glaubte, durfte er seine Experimente in den Räumen der Universität durchführen. Offensichtlich wurde er doch ernst genug genommen, um ihn nun aus dem Weg zu schaffen. Von wem? Stand er vor dem Durchbruch?’

„Ich bevorzuge eindeutig den Ausdruck ‚genialer Exzentriker‘. Wenn ich diesen Schmierfinken erwische!“ Lancelot gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verbergen, der sich sowohl auf die unfreundliche Bezeichnung als auch auf den Stil des Artikels bezog. Er hatte die ‚News‘ noch nie leiden können.

„Warum hast du damals auch so viel von deiner Erfindung gequatscht? Jetzt haben wir den Salat!“ schimpfte Tilly. „Wer könnte es gewesen sein?“

Er zuckte mit den Schultern. „Der CIA, der Secret Service, die Chinesen, ...“

„Witzbold!“

„Wenn du solche Fragen stellst. Patrick, kannst du den Computer vom Yard anzapfen?“

„Bin längst dabei!“ trumpfte Patrick auf. „Aber das kann eine Weile dauern. Kann in der Zwischenzeit jemand Tee kochen?“

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