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Opa Windolin, der fliegende Großvater
Die Reise zur Dracheninsel

für Svenja Rosa

Anna Lila war wirklich in großen Schwierigkeiten! In drei Tagen brauchte sie nämlich einen Drachen. Keinen mit einer langen Leine, den man im Wind steigen lassen konnte, sondern einen echten, feuerspeienden Drachen. Und das kam so:

Heute morgen im Kindergarten hatte Anna Lila ihren Lieblingsdinosaurier mitgebracht. Er war wirklich riesig, sogar fast noch größer als Teddy, und wenn man ihn aufzog, dann wedelte er mit dem Schwanz. Anna Lila und ihre Freundinnen hatten mit ihm gespielt, und es hatte allen Spaß gemacht, bis Manfred dazu kam.

„Mein Saurier ist viel größer“, hatte Manfred gesagt.

„Das stimmt nicht“, hatte Anna Lila geantwortet. „Und außerdem wächst meiner noch!“

„Meiner auch!“

„Und zu Hause habe ich einen noch viel riesigeren!“

„Ich auch! Mit solchen Zähnen!“

Die Saurier wurden immer größer, und weder Anna Lila noch Manfred wollten nachgeben. Manfred mußte ja mindestens zehn Dinosaurier zu Hause haben, und alle viel größer als Anna Lilas. Ausgerechnet Manfred, der immer die Sandburgen zertrampelte. Und jetzt sagte er auch noch, er würde sie am Montag mitbringen!

„Und ich habe einen Drachen! Einen richtigen feuerspuckenden Drachen, und wird deine dummen Saurier auffressen“, prahlte Anna Lila schließlich verzweifelt.

„Dann bring ihn doch auch mit!“ lachte Manfred.

„Das mach ich!“ sagte Anna Lila trotzig. „Dann wirst du schon sehen.“

Ja, dann würde Manfred sehen, daß Anna Lila nur angegeben hatte. Er würde sie bestimmt auslachen. Also mußte Anna Lila bis zum Montag einen echten Drachen finden. Aber wo? Da konnte ihr nur noch einer helfen: Opa Windolin!

In Opa Windolins Haus gab es eigentlich alles. Ausgestopfte Tiere, glitzernde Steine, eine Ritterrüstung, zahme Mäuse, einen Piratensäbel, einen echten Marterpfahl und vieles mehr, ja eigentlich alles, was Anna Lila sich vorstellen konnte. Opa mußte schon überall auf der Welt gewesen sein, ganz bestimmt!

Und am nächsten Morgen besuchte Anna Lila Opa. Der saß wie immer in dem großen Sessel vor dem Kamin und hörte sich Anna Lilas Geschichte an. Als Anna Lila fertig war, brummte Opa Windolin mißbilligend.

„Wer so hemmungslos angibt, muß es auch selbst ausbaden“, stellte Opa fest.

„Aber Manfred ist so doof, und immer muß er recht behalten. Du mußt mir helfen, Opa, bitte!“

„Aber ich kann doch nicht zaubern.“

„Du hast keinen Drachen?“ Anna Lila war enttäuscht und traurig.

Opa schüttelte den Kopf.

„Nicht einmal einen ganz kleinen?“ Sie konnte es kaum glauben.

„Nein. Nur einen aus Stein. Aber der spuckt kein Feuer.“

Anna Lila lief eine Träne über die Wange. „Schade.“ Wenn Anna Lila nur einen Drachen gehabt hätte, dann hätte sie Manfred sagen können, daß er sie in Ruhe lassen sollte. Dann hätte er sich nicht mehr getraut, die Sandburgen kaputt zu machen.

Opa sah sie nachdenklich an. „Da hilft wohl nichts mehr“, stellte er schließlich fest. „Wir müssen uns einen Drachen holen. Komm mit!“

Opa führte Anna Lila zur Scheune. Sie räumten jede Menge Gerümpel weg, wühlten einige Ballen Heu beiseite, und da lagen sie: Opas Flügel. Sie sahen aus wie die von einer großen Fledermaus, und man konnte sie umschnallen. Gemeinsam trugen sie die Flügel auf den Hof. Windolin setzte seine Mütze und seine Brille auf, schnallte die Flügel an und bückte sich, damit Anna Lila auf seinen Rücken klettern konnte.

„Halte dich gut fest, und verrate nur Oma nichts!“

Dann nahm er Anlauf, fing an zu flattern, hüpfte ein paar Mal, und gerade als der Zaun schon bedrohlich nahe kam, hob er ab.

„Hurra!“ rief Anna Lila. „Wir fliegen!“

Die Bäume, die Häuser und die Autos wurden immer kleiner. Erst wurde es Anna Lila schwindelig, aber bald sah alles wie winziges Spielzeug aus. Nun merkte sie kaum noch, wie hoch sie waren. Der Wind pfiff ihr um die Nase, und Wolken kamen immer näher. Ganz weit unten zog die Stadt vorüber, ein Fluß und hohe Berge. Ein Flugzeug flog vorbei, und der Pilot winkte ihnen.

„Wohin fliegen wir, Opa?“ wollte Anna Lila wissen.

„Zur Dracheninsel“, erklärte Opa.

„Kennst du denn den Weg?“

Windolin zögerte einen Moment. „Aber sicher doch.“ Er klang nicht sehr überzeugend.

Sie waren über ein Meer geflogen, und über eine Insel und dann wieder über Land. Anna Lila erspähte einen winzigen Löwen. Das mußte also Afrika sein. Wieder überquerten sie einen Ozean, und eine Wüste, und bald sah Anna Lila eine Giraffe. Schon wieder Afrika!

„Opa, kennst du wirklich den Weg?“

Opa Windolin brummte etwas in seinen Bart. Er hatte sich also wirklich verflogen! Wirklich, er hätte doch eine Landkarte mitnehmen sollen.

„Die Dracheninsel steht auf keiner Landkarte“, erklärte Windolin, „normalerweise mögen die Drachen nämlich keine Besucher!“

Dann wechselte Opa die Richtung, und bald flogen sie wieder über den Ozean. Weit unter ihnen war ein Schiff. Dort konnten sie nach dem Weg fragen. Opa Windolin machte einen Sturzflug, bei dem es Anna Lila ganz schwindelig wurde. Dann kreiste er langsam um die höchste Mastspitze, und die beiden sahen, daß eine schwarze Flagge mit zwei gekreuzten Säbeln flatterte. Ein Seeräuberschiff!

„Wo geht es bitte zur Dracheninsel?“ fragte Windolin freundlich den holzbeinigen Piraten auf dem Ausguck.

„Grbwngngwnr“, antwortete der grimmig.

„Wie bitte?“

Der Seeräuber nahm das Messer aus dem Mund und wiederholte: „Immer nach Sonnenuntergang!“ Dann fluchte er einen fürchterlichen Piratenfluch. Nicht etwa, daß er schlecht gelaunt gewesen wäre, aber wirklich wilde Seeräuber fluchen nach jedem Satz.

Opa Windolin bedankte sich und flog der untergehenden Sonne nach. Sie flogen lange, und bei dem sanften auf und ab und auf und ab schlief Anna Lila ein.

Sie erwachte, als sie husten mußte. Anna Lila schlug die Augen auf und sah nichts. Rauch!

„Opa, wo sind wir?“ schrie sie und mußte wieder husten.

Windolin ging es nicht besser. „Ein - Hust! - Vulkan - Hust!“

Anna Lila kniff die Augen zusammen und hielt die Hand vor Mund und Nase. Dann wurde die Luft besser, und sie traute sich wieder zu schauen. Hinter ihnen war eine dicke, dichte Rauchwolke.

„Der Vulkan der Dracheninsel“, schnaufte Opa Windolin. „Wir haben sie gefunden.“

„Hättest du nicht drumherum fliegen können?“ schimpfte Anna Lila und rieb sich die Augen.

Opa schüttelte den Kopf. „Die Insel ist verzaubert“, erklärte er. “Man kommt nur durch den Vulkan hin. Drachen gibt es nur mit Zauberei und mit Feuer, sonst wären es ja Eidechsen.“

Anna Lila nickte verständig. Opa hatte wieder einmal recht.

Sie landeten an einem weißen Sandstrand. Wellen rauschten am Ufer, und auf der anderen Seite begann ein dichter, grüner, wunderschöner Wald.

Die kleine Anna Lila half ihrem Großvater, seine Flügel abzulegen. Sie sah sich ungläubig um. „Aber ich habe immer gedacht, Drachen leben in dunklen Höhlen, hinter schrecklichen Felsen, im Sumpf und in der Lava.“

„Das ist ja entsetzlich ungemütlich!“, sagte eine dunkle, grollende Stimme hinter ihr. „Sowas kann sich aber auch nur ein Mensch ausdenken.“

Anna Lila drehte sich erschrocken um. Hinter ihr hatte ein riesiger Drache seinen Kopf aus dem Gebüsch des Waldrandes gestreckt. Er sah sie mit großen gelben Augen an. „Wer bist du?“ donnerte er weiter. „Sag es mir, bevor ich dich brate!“

Entsetzt trat das kleine Mädchen zurück. „Ich heiße Anna Lila“, erklärte sie schnell, „und ich schmecke gebraten überhaupt nicht gut.“ Dann versteckte sie sich hinter Opa.

Der Drache und Opa Windolin sahen einander an, und Großvater schüttelte mißbilligend den Kopf.

„Windolin“, sagte der Drache endlich, und seine Stimme klang plötzlich noch düsterer. „Windolin, du schon wieder. Du warst doch erst vor hundert Jahren hier. Welchen Ärger machst du uns diesmal.“

„Aber Schmurg!“ entgegnete Opa gekränkt, „wieso Ärger? Ich wollte mir nur einen Drachen leihen.“

„Was glaubst du, wo du hier bist?“ Der große Schmurg war richtig erschrocken. „Aber du kannst doch nicht, ich meine das geht doch nicht...“

„Warum nicht? Schließlich ist das die Dracheninsel“, sagte Opa ganz ruhig. „Bring uns doch einfach zum König.“

„Ich dachte, wir wollten uns einen Drachen fangen“, sagte Anna Lila enttäuscht.

„Psst!“ antwortete Windolin, und Schmurg sah das kleine Mädchen grimmig an. „Mrrrrrr!“ machte er, und Anna Lila zog den Kopf ein.

Kopfschüttelnd führte Schmurg die beiden Menschen in den Wald. Es wurde dunkel um sie herum, und überall im Finstern sah Anna Lila gelb leuchtende Drachenaugen. Manche waren klein wie die von Mäusen, und andere waren so riesig wie Fußbälle. Es war richtig unheimlich!

Dann kamen sie auf eine Lichtung, und Anna Lila hielt den Atem an. Da waren hunderte von Drachen versammelt, kleine und große, grüne und rote und blaue, mit und ohne Flügeln, manche hatten riesige Zähne, sechs Beine oder sieben Köpfe, und viele rauchten aus den Nasen. Und inmitten der vielen Drachen saß der größte von allen. Er war golden, mit glitzernden Schuppen, und er hatte eine silberen Krone auf dem Kopf.

„Windolin! Du schon wieder!“ Der Drachenkönig ließ eine kleine Flamme züngeln.

„Hallo König Grollo Feuerzahn!“ sagte Opa. „Du mußt uns unbedingt helfen!“

Sie erklärten dem Oberdrachen, welche Schwierigkeiten sich Anna Lila bereitet hatte. Der hörte ihnen aufmerksam zu und schüttelte besorgt den Kopf.

„Das ist ernst, sehr ernst“, stimmte er zu. „Ich glaube, ihr braucht einen echten Leihdrachen.“

Der König erlaubte Anna Lila, sich einen Drachen auszusuchen. Einige der riesigen Echsen schauten sie mißtrauisch an, aber die kleinen Drachen drängelten sich nach vorne und wollten unbedingt die Menschenwelt sehen.

„Ich! - Ich! - Nein, ich!“ riefen sie durcheinander.

Anna Lila entschied sich für einen mittelgroßen. Er war leuchtend grün, hatte Flügel und einen langen Schwanz. „Ich heiße Schnurps“, stellte er sich vor. „Ich habe noch nie einen echten Kindergarten gesehen!“

Sie bedankten sich beim Drachenkönig und gingen durch den Wald zurück zum Strand. Opa Windolin wollte schon seine Flügel anlegen, aber Schnurps schüttelte den Kopf.

„Ihr könnt doch reiten“, bot er ihnen an.

Anna Lila war begeistert. Sie kletterte auf Schnurps Rücken, und Opa, der seine Flügel festhielt, setzte sich hinter sie. Der Drache nahm Anlauf, und dann starteten sie! Schnurps flog schnell, viel schneller als Opa Windolin. Großvater und Anna Lila mußten sich an den Schuppen festhalten. Es war einfach toll, und das kleine Mädchen lachte vor Freude.

Sie flogen durch den Rauch des Vulkans und hinaus auf die See. Als Anna Lila unter sich das Piratenschiff wiedersah, rief sie laut 'Hallo!'. Der Seeräuber auf dem Mast schaute nach oben, biß vor Schreck ein Stück aus seinem Messer heraus und fiel dann laut fluchend ins Wasser. Dann überquerten sie Afrika mit den Elefanten und den Löwen, aber diesmal nur einmal, denn Schnurps kannte den Weg. Als sie endlich Zuhause ankamen, wurde es schon Dunkel.

Anna Lila konnte kaum schlafen, so aufgeregt war sie.

Am Morgen legten sie dem Drachen ein Halsband mit einer ganz langen Leine um. Schnurps startete und flog immer höher und höher hinauf, bis er nur noch ein Punkt am Himmel war. Jetzt würden sie es Manfred aber zeigen!

Sie führte ihren Drachen zum Kindergarten, und dort wartete Manfred schon am Eingang. Er hatte einen wirklich großen Plüschsaurier im Arm. Nichts so groß allerdings, wie er behauptet hatte!

„Na, wo ist dein Riesendrache“, sagte er lachend und siegesgewiß.

„Da oben“, antwortete Anna Lila. Sie begann, die Leine einzuholen.

„Drachen zum Steigenlassen gelten nicht!“

Manfred wollte sie schon auslachen. Aber je weiter sie die Leine herunterzog, desto größer wurde der Drache. Er flog im Kreis über dem Kindergarten, und alle schauten begeistert nach oben. Nur Manfred wurde ganz kleinlaut.

„Aber er spuckt kein Feuer“, behauptete er leise, damit der Drache es nicht hörte.

Doch Schnurps hatte gute Ohren, und so spuckte er eine riesige Flamme in den Himmel. Manfred nahm reißaus, und auch die anderen Kinder versteckten sich erschrocken im Haus und in den Büschen.

Der Drache landete auf der Wiese und lächelte

„Ihr braucht keine Angst zu haben“, rief Anna Lila. „Schnurps ist ganz lieb!“

Einer nach dem anderen kamen sie hervor, kämen näher und streichelten schließlich den Drachen. Dann kletterten sie auf seinen Rücken, denn Schnurps hatte sie alle zu einem Rundflug eingeladen. Sogar Manfred flog mit, ganz hinten am Schwanz.

„Weißt du was", sagte er ganz kleinlaut beim Aufsteigen, „dein Drache ist wirklich der tollste!“

Als er sie wieder abgesetzt hatte, verabschiedete sich Schnurps. Er drehte noch eine Runde hoch über dem Kindergarten, spuckte noch einmal Feuer, und dann flog er zurück zur Dracheninsel.

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