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Ich, Sina C., 22 Jahre alt, Studentin der Kommunikationswissenschaften, werde eine der ersten sein, die das Shelnet ausprobiert. Ja, ich denke, ich sollte diese Chance ergreifen, aber es ist keine leichte Entscheidung. Vor ein paar Jahren hätte ich so etwas für undenkbar gehalten. Aber das Shelnet gab es damals auch noch nicht, und auch nicht ARGOS, jedenfalls nicht so wie heute. Aber das war vor Weihnachten 2036, vor dem Armageddon-Virus. Dem Virus, das plötzlich von Millionen von gehackten Haushalts-Assemblern produziert wurde, und das nur wegen eines Designfehlers nicht mehr als eine Milliarde Menschen umgebracht hat. Die meisten sind in Asien gestorben, nicht hier. Zwei Freunde von mir hat es trotzdem erwischt. Ich habe jahrelang panische Angst vor Assemblern gehabt.

Da es längst zu spät war, die Nanoassembler aus der Welt zu schaffen, müssen eben die Menschen besser kontrolliert werden. Und so wird jeder unserer Schritte aufgezeichnet, jeder Einkauf, jeder Brief, jedes Gespräch ausgewertet und nach den Mustern durchsucht, die auf eine gefährliche Entwicklung hinweisen. Für alle, die seither geboren wurden, von Geburt an.

Ich war damals schon zu alt, um mich daran zu gewöhnen, daß wir nicht mehr alleine sein können, nirgendwo. Wo keine Kameras und Scanner sind, da liegt der intelligente Staub aus Motes und Bots im Gras und zwischen den Sandkörnern. Es geht wohl nicht anders, wenn sich 2036 nicht wiederholen soll.

Mit dem Shelnet können wir wieder alleine sein, endlich wieder. Es sitzt im Kopf, als Zusatzmodul an einem gewöhnlichen Visual-Cortex-Interface, und es wertet nicht aus, was wir tun, sondern was wir denken. Nicht im Detail, aber die Aktivitätsmuster im Gehirn. Erst wenn wir versuchen wollen, großen Schaden anzurichten, wird es aktiv und funkt nach außen. Und bis dahin sind wir ein blinder Fleck des Systems. Es werden keine Daten über uns gesammelt, die Motes ignorieren uns, wir dürfen endlich wieder alleine sein. Nur ein Nano-Upgrade am Visucort, schnell und tut nicht weh.

Yann, mein Freund, glaubt das natürlich nicht. Wir haben es wieder und wieder diskutiert, am Strand, draußen in der Brandung, wo die Motes uns wahrscheinlich nicht hören können. Er denkt, der Heimatschutz oder das Konsortium könnte einfach so Signale im ganz normalen Datenstrom verstecken. Ich finde das irgendwie paranoid, man würde es schließlich entdecken können, wenn etwas anderes gesendet wird als der Ping. Er hält mich für leichtgläubig. Schon die Abstände zwischen den Pings könnten Informationen enthalten, sagt er. Aber es ist doch eine Demokratie, oder?

‚Wenn ich schon nicht in der Welt alleine sein kann, dann möchte ich es wenigstens in meinem Kopf sein‘, sagt er, ‚und wenn ich schon überall beobachtet werde, dann wenigstens nicht durch deine Augen.‘ Er könne es nicht ertragen, wenn er durch mich überwacht würde, sagt er. Und ich müsse mich entscheiden. Also Yann oder Freiheit? Diese Entscheidung ist so falsch!

Seltsam: vor einer Stunde habe ich einen merkwürdigen Ausschlag bekommen. Jetzt ist er wieder weg.

… Seit heute morgen treten Fälle von spontaner Hautrötung auf, die anscheinend im Stundenrhythmus verschwindet und wiederkehrt. Weitere Symptome sind bislang nicht aufgetreten. Die Gesundheitsbehörden fordern die Betroffenen auf, ihren Hausarzt aufzusuchen. Es bestehe kein Grund zur Sorge. Unbestätigten Berichten zu Folge werden aber Vorbereitungen für weitreichende Notfallmaßnahmen getroffen. …

Ich, Peter Ö., 57 Jahre alt, freier Programmierer, werde niemals einen Visucort benutzen und niemals zulassen, daß direkt in meinem Kopf spioniert wird. Mag es auch noch so schwer sein, sich der allgegenwärtigen Schnüffelei zu entziehen, diese letzte Grenze werde ich mit meinem Leben verteidigen.

Ich verteidige sie gegen beide Seiten, gegen die ‚Terroristen‘ und gegen jene, die uns vor ihnen ‚retten‘ wollen. Wen retten, vor wem? Denn die Verdächtigen sind nicht mehr unter uns, wir sind die Verdächtigen, wir alle. Jeder PC-Benutzer könnte heute mit einem Stoffwechselsimulator und einer Genbibliothek einen Virus designen und vom Assembler produzieren lassen. Natürlich sind Stoffwechselsimulatoren verboten, und ein Haushaltsassembler kann heute keine DNA mehr produzieren. Aber sonst kann er fast alles aufbauen, was nicht copyrightgeschützt ist. Wenn er also Bauteile herstellt, die Bots herstellen, die DNA aufbauen können? Nanotechnik kann sich wie einst Baron Münchhausen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Ohne sie würden wir noch leben wie zu Beginn dieses Jahrtausends, eine schreckliche Vorstellung. Aber ob wir es schaffen, mit ihr zu überleben? Die apokalyptischen Sekten werden in allen Religionen immer zahlreicher und immer einflußreicher. Früher haben sie betend auf das Ende der Welt gewartet, heute könnten sie zum ersten Mal ihren Göttern die Arbeit abnehmen.

Vielleicht ist es jetzt so weit. Wenn die Sicherheitsmaßnahmen auch nur halb so gut sind, wie immer behauptet wird, hätte dieses Virus, oder was auch immer es ist, nicht auftauchen können. Es ist eindeutig künstlich, und das war kein Witzbold, sondern jemand, der sehr genau Bescheid weiß. Was einmal wieder zeigt, daß all die Schnüffelei nur Amateure und Unschuldige fängt. Wer sich wirklich Mühe gibt, schlüpft durch die Maschen, das war zur Zeit der Schlapphüte und Spione nicht viel anders als heute mit ARGOS. Also brauchen sie eben neue Techniken, und wieder neue. Von den meisten erfahren wir nichts.

ARGOS weiß ohnehin schon fast alles über uns, bis hin zum Rhythmus unserer Verdauung. Und sie merken schneller, wenn er sich ändert, als ich selber. Ein Zeichen von Unausgeglichenheit, ein Risikopunkt. Da ich regelmäßig in die Kirche gehe, zählt der Punkt wohl doppelt. Genau werden wir das nie erfahren, die Algorithmen sind geheimer als irgendetwas sonst. Immerhin sind wir noch nicht so weit wie in Frankreich, wir genießen Narrenfreiheit, so lange wir das System nicht gefährden.

Aber jetzt kommt das Shelnet, für den Anfang freiwillig, als Lockangebot sozusagen. Laßt uns in euer Hirn, oder wir können euch nicht beschützen! Pest oder Pocken, was hätten sie lieber? Wenn wir uns auf diese Frage einlassen, haben wir das Spiel schon verloren. Haben wir wirklich nur die Wahl, uns vernichten zu lassen oder uns selber aufzugeben? Aber es wird laufen wie jedes Mal, man gewöhnt sich daran, irgendwann ist es normal, und dann gehört es dazu. Meine Eltern haben sich einmal über eine Volkszählung aufgeregt. Lächerlich, oder? In zehn Jahren wird sich niemand mehr über das Shelnet aufregen, so einfach ist das. Dann kommt der nächste Schritt, und ich weiß, wie er aussehen wird: warum böse Absichten aufspüren, wenn man von vorneherein verhindern kann, daß sie gedacht werden? Wir werden das wahrscheinlich nicht einmal merken, denn die Baupläne, Schnittstellen und Codes kennt nur das Konsortium.

Schon das Visucort öffnet mehr Datenquellen, als die meisten auch nur ahnen. Es ist weit mehr als einfach nur der Bildschirm im Kopf. Und es verändert die Menschen, die es benutzen, nicht nur durch die ‚Kinderkrankheiten‘, wie sie es damals genannt haben. Ich habe Freunde an das Visucort verloren, und eine Freundin.

Ich werde diesen Weg nicht mitgehen, auch wenn es für mich immer mehr Nachteile bringt. Es ist schon schwierig geworden, einen Job zu finden, den man ohne Draht im Hirn erledigen kann. Vielleicht bin ich ein Dinosaurier.

… Das seit gestern weltweit auftretende Blinkfieber scheint entgegen ersten Annahmen nicht von Nanobots, sondern von einem Virus verursacht zu werden. Die Gesundheitsbehörden gehen von einem Designervirus aus. Obwohl bislang keine weiteren Krankheitssymptome beobachtet werden konnten, wurden für die Betroffenen Quarantänelager eingerichtet. Um neue Ansteckungen zu verhindern, wurden außerdem alle öffentlichen Einrichtungen und Geschäfte geschlossen und ein Versammlungsverbot verhängt. Betroffene sind verpflichtet, sich beim nächstgelegenen Beratungszentrum des Heimatschutzes zu melden, um bestmögliche medizinische Versorgung zu erhalten. Bioscanner wurden reprogrammiert, um Infizierte zu erkennen und zu melden. Die Behörden betonen, daß es sich um reine Vorsichtsmaßnahmen handele, es bestehe kein Anlass zur Panik. Die Entwicklung eines Gegenmittels und Impfstoffs sei weitgehend abgeschlossen …

Ich, Nirit T., 48 Jahre alt, Sekretärin, verstehe die Privatisten einfach nicht. Es sind Maschinen, die uns beobachten, nur Maschinen. Sie fürchten sich schließlich auch nicht vor ihrem Kühlschrank, und der weiß mehr über uns, als man denkt.

Die Programme und Maschinen von ARGOS beobachten uns zwar, aber sie sind verschwiegen. Verschwiegener als ein Kühlschrank übrigens, denn der meldet unsere Eßgewohnheiten dem Supermarkt, den Lebensmittelkonzernen, wer weiß wem noch, wenn man nicht aufpasst. ARGOS – der Name klingt viel zu bedrohlich – gibt nur Meldungen weiter, wenn wirklich Gefahr droht. Erst wenn es noch einmal geprüft hat, ob jemand auch wirklich verdächtig ist, informiert es Menschen. Und mir ist noch nie jemand begegnet, dem auch nur der Ausweis persönlich kontrolliert worden ist. Na ja, wenn man nicht gerade nach Frankreich reist natürlich. Evi hat mir, nur zur Sicherheit, ein Amulett gegeben, gegen falsche Verdächtigung, aber da glaube ich nicht so recht dran. Und dass Kirsten entlassen worden ist, hat andere Gründe. Früher jedenfalls haben Wachleute am Monitor entweder geschlafen oder hübschen Frauen nachgeschaut, statt da zu sein, wenn man sie gebraucht hat. Da hat man sich beobachtet gefühlt, und das zu Recht. Heute schaut niemand mehr zu, dafür ist die Welt so sicher und so lebenswert wie nie zuvor.

Na ja, sie war es jedenfalls, aber dieses komische Blinkfieber scheint ja auch nicht so richtig schlimm zu sein. Ich bin sicher, ARGOS hätte rechtzeitig Alarm geschlagen, wenn da jemand etwas wirklich Gefährliches gemacht hätte.

Manchmal stelle ich mir vor, es gibt ein Programm, das nur für mich zuständig ist. Ich nenne es Orpheus. Er gibt ein Gefühl der Geborgenheit, oder? Orpheus schaut immer zu. Das spornt an, ein wenig auf sich zu achten und sich nicht gehen zu lassen. Manchmal, wenn ich unsicher bin oder mich nicht entscheiden kann, ertappe ich mich bei der Frage ‚was würde Orpheus dazu sagen?‘

Das Shelnet, nein, das möchte ich nicht benutzen. Es genügt, wenn ARGOS weiß, was ich tue. Er muß nicht wissen, was ich denke. Und was sagt das auch aus, schließlich kann ich an alles mögliche Denken. Er muß das nicht wissen.

Aber dieses neue Fieber ist wirklich seltsam. Drei mal kurz, drei mal lang, drei mal kurz, als ob es uns etwas sagen wollte. Ich werde es zu Hause abwarten. Die Firma hat für die nächsten Tage geschlossen, da fällt es nicht auf. Und so schlimm soll es ja nicht sein. Jedenfalls gehe ich nicht in Quarantäne. Ich werde mich endlich einmal in Ruhe hinsetzen, die Augen schließen und einen Film schauen, nur ich allein – und Orpheus.

… Nach der Verteilung des Impfstoffs gegen das SOS-Fieber ist die Zahl der Neuerkrankungen stark gesunken. Obwohl es bisher keine Todesfälle gab, werden alle Erkrankten weiter in Quarantäne gehalten. Unbestätigten Berichten zufolge soll das Virus nach der Blinkphase einen DNA-Strang produzieren, dessen Funktion noch nicht entschlüsselt werden konnte. Fachleute gehen davon aus, daß das Virus sich bereits seit mehreren Monaten unbemerkt ausbreitet, aber durch einen genetischen Timer erst jetzt aktiviert wurde.
In einigen Städten kam es zur Plünderung von Supermärkten, das Friedenscorps wurde zum Schußwaffengebrauch ermächtigt …

Ich, Kevin R., Versicherungsinformatiker, 41 Jahre alt, fordere konsequente Maßnahmen für mehr Sicherheit. Dieser Anschlag zeigt, dass es Terroristen und Apokalyptikern immer noch viel zu einfach gemacht wird. Was soll das Gerede über mehr Rechte für Bürger, wenn es beim nächsten Mal keine Bürger mehr für die Rechte gibt? Das Shelnet muss Pflicht werden, und nach diesem Paukenschlag wird es das wohl auch.

Man muss sich fragen, auf wessen Seite die Privatisten eigentlich stehen. Mit ihrer Totalblockade gegen jede Sicherheitsmaßnahme spielen sie den Terroristen in die Hände, mit ihren so genannten Bedenken verleumden sie unsere Demokratie. Natürlich sammeln sich bei ihnen all jene, die sich aus guten Gründen vor mehr Sicherheit fürchten. Alle anderen schützt unser Netz.

Wir leben in einer intelligent gewordenen Welt. Sie reagiert auf uns, sie gibt uns Informationen, die wir brauchen, wann und wo immer wir sie brauchen. Unsere Vorfahren mussten sich Informationen mühsam suchen, wir müssen sie nur noch auswählen. Aber manche sehnen sich offensichtlich nach der Zeit zurück, als Singles Windelwerbung und Kinder Reklame für Kondome vorgesetzt bekamen. Ist denn eine Umwelt, die uns nicht wahrnimmt, heute überhaupt noch menschenwürdig?

Nein, ich denke, ARGOS, wie wir es heute kennen, ist zu schwach. Die Suche nach Terrorverdächtigen und Verbrechern ist nur der kleinste gemeinsame Nenner einer moralisch schwachen Gesellschaft. Verbrechen gegen die Gemeinschaft, das offene Untergraben der Moral sind auf lange Sicht kaum weniger gefährlich als Terrorismus. Und sie sind die Vorstufe, die Saat der Bedrohung. Ich hoffe, dass nach diesem Zeichen eine Besinnung auf unsere christlichen Werte einsetzen wird, damit Freiheit nicht länger die Freiheit zum Zerstören bedeutet. Denn auf lange Frist kann nur eine alle Gesellschaften dieser Welt durchdringende Moral den Untergang aufhalten. Kommunisten, Islamisten und Apokalyptiker, alle die sich anmaßen, Gottes Wege selber in die Hand nehmen zu müssen, sind die Früchte dieses moralischen Zerfalls.

Vielleicht wird das Shelnet ein Zeichen auch gegen diesen inneren Niedergang, denn es wird uns in Erinnerung rufen, dass keine unserer Taten, keiner unserer Gedanken unbemerkt bleibt. Das war schon immer so, aber zu viele haben es vergessen, und die Folgen erleben wir überall. Welche Rolle spielt da die Beobachtung durch eine bewusstlose Maschine? Menschen beobachten Menschen, schon immer, überall, privat und von Staats wegen. Und über allem wacht Gott, unser Herr und Vater, und nie hat sich jemand beschwert, dass ER uns sieht. Unsere Gesellschaft braucht mehr Vertrauen. Natürlich werde ich mich am Shelnet beteiligen.

… Die Quarantänemaßnahmen zur Eindämmung des SOS-Fiebers wurden aufgehoben, nachdem die zweite Gegenmittel-Generation nun auch den Non-Sense-DNA-Strang erkennt und das Virus so spurlos aus dem Körper entfernt.
Die Parteien des Christlichen Zentrums haben eine parlamentarische Initiative gestartet, um die Teilnahme am Shelnet allgemein verbindlich zu machen. Der Aufsichtsratsvorsitzende des Konsortiums für technische Sicherheit und Kommunikation versicherte, daß die Technik einsatzbereit sei und kurzfristig in ausreichender Menge zur Verfügung gestellt werden könne. Als erste Maßnahme wurde die Einreise aus nicht-AEU-Staaten ohne vollständigen DNA-Scan untersagt …

Ich, Sara B., 50 Jahre alt, Biokybernetikerin, bin gerade aus der Quarantäne entlassen worden. Die Krise scheint beendet zu sein. Aber das stimmt nicht, denn die Krise ist permanent, neue Bedrohungen und neue Sicherheitsmaßnahmen wechseln einander nur ab, immer aufs neue und manchmal geplant.

Die prekäre Sicherheit, in der uns Konsortium und Heimatschutz wiegen, die uns gleichzeitig Geborgenheit und doch das Bedürfnis nach besserem Schutz vermitteln soll, ist kaum mehr als eine bröckelnde Fassade. Immer mehr Motes, Kameras, Scanner und Daten, all das führt nicht mehr weiter, wenn in der Informationsflut das Wesentliche nicht mehr vom Unwesentlichen zu unterscheiden ist. Sind die ARGOS-Algorithmen zu scharf, schlagen sie falschen Alarm, sind sie zu vorsichtig, übersehen sie die entscheidenden Hinweise. Eine Balance gibt es nicht, nur Fehlerquoten und Restrisiken. Shelnet ist die Notwehr des Systems, es soll nicht die Privatsphäre schützen, sondern die Datenmengen beherrschbar machen. Ich zweifle, dass es gelingen wird, denn am Ende wird doch nur wieder die Datenflut erhöht. Warum sollten die Shelnet-Algorithmen besser sein als die von ARGOS? Und glaubt wirklich jemand, das Konsortium würde auf Dauer darauf verzichten, Shelnet-Nutzer zu beobachten, wenn Daten so wertvoll sind?

Die wirklichen Krisengebiete in Afrika, Arabien und Südamerika, wo die Nanobot-Armeen von Kriegsfürsten und Schutztruppen ihre unsichtbaren Kriege führen, sind ohnehin nicht kontrollierbar. Sie sind der wahre blinde Fleck des Systems.

Diesmal sind wir davongekommen, aber der große Anschlag wird passieren, früher oder später, nächstes Jahr, in zehn Jahren, oder in Hundert. Und mit der Technik, die sich immer schneller entwickeln wird, werden neue Möglichkeiten kommen, unbegrenzten Schaden anzurichten. Vielleicht ist ein Killervirus besser als ein schwarzes Loch, denn dann wird, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, immerhin jemand übrig bleiben. Und mit etwas Glück wird die nächste Menschheit intelligenter sein, wenn die Selektion wieder ein wenig wirken kann.

In den Labors ist die Technik längst über Visucort und Shelnet hinaus. Sie sind nur die ‚Dampfmaschinen‘ der Neuroelektronik. Die biokybernetische Revolution steht erst an ihrem Anfang. Speichererweiterungen fürs Gehirn, die direkte Einbindung von Datenbankabfragen in Denkprozesse, das sind die nächsten Schritte. Es wird nur noch wenige Jahre dauern, bis Dank künstlicher Intelligenz der technische Fortschritt schneller verlaufen wird, als unsere Gehirne ihn erfassen können. Nach dieser technologischen Singularität werden wir den Menschen neu erfinden müssen, wenn wir ‚Mensch‘ nicht mit ‚dümmer als ein Mikrochip‘ definieren wollen. Wer nicht mitzieht, wird den Anschluss verlieren und als neuer Analphabet, als zum Untergang verurteilter Hinterwäldler in einer für ihn nicht mehr verständlichen Welt leben. Wer mitmacht, wird ein Teil des Netzes werden, nicht mehr nur Benutzer, und Denken selbst wird so überwachbar wie heute das Webdiving.

Bis dahin müssen wir uns mit Shelnet abfinden. Ich jedenfalls bin es müde, mich zu wehren, ich kann damit arrangieren. Heute gibt es keinen modernen Job ohne Visucort, in einem Jahr, da bin ich sicher, keine Stelle mehr ohne Shelnet. Immerhin, noch leben wir in so etwas wie einem Rechtsstaat, und wer noch gläubig ist möge beten, daß diese Daten nie einer Diktatur in die Hände fallen.

Wäre das Virus ‚normaler‘, man könnte sich fragen, warum es so passend für das Konsortium kommt. Aber etwas ist zu seltsam an diesem Virus. Der größte Teil seiner DNS scheint keinen Sinn zu ergeben. Aber jemand, der eine so raffinierte genetische Schaltung mit mehreren Timern zusammenbauen und verbreiten kann, der baut keinen Schrott in seine Maschine. Diese DNA hat eine Bedeutung, und wir müssen sie finden. Der erste Verdacht war, dass sich dahinter eine teuflische Maschinerie verbirgt. Aber das passt nicht zusammen, denn dann hätte man sie versteckt. Es macht auf sich aufmerksam, als ob es eine Botschaft ist, die gelesen werden soll. Wir müssen sie übersetzen, ehe die Medikamente ihre Spuren eliminieren und die Sequenz in den Archiven des Heimatschutzes verschwindet.

· · · – – – · · · Freunde in der freien Welt, es macht mich glücklich, dass ihr diesen vielleicht letzten Weg, eine unzensierte Botschaft aus unserem Land zu schmuggeln, gefunden habt …

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