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Nur eine kleine Formalität
Milena rannte im Schutz der Lagerschuppen die dunkle Straße herunter. Sie mußte an der nächsten Ecke sein, ehe die Wachposten zurückkamen. 50 Sekunden blieben ihr noch dafür, wenn ihre teuer bezahlten Informationen richtig waren. Die junge Frau machte einen Bogen um ein verrostetes Faß, so daß sie für einen Augenblick ins Licht einer Laterne treten mußte. Etwas klapperte, und sie zuckte erschrocken zusammen. Aber nur eine Ratte huschte in die Dunkelheit, und Milena beschleunigte ihren Lauf.
Es war eine triste Gegend, durch die ihre Flucht führte. Löchrige Straßen, nur von wenigen verbliebenen Lampen notdürftig erleuchtet, wurden von halb verfallenen Fabrikgebäuden gesäumt. Lange schon wurde hier nicht mehr gearbeitet, in der kalten Luft lag der Gestank von Chemikalien und Unrat. Milenas Schritte schienen von den Wänden widerzuhallen, und sie fragte sich, warum man sie nicht schon längst gehört hatte. Oder war es nur ihre Angst, die den Eindruck jedes Geräuschs so verstärkte? Sie zwang sich, ruhig zu bleiben.
Endlich erreichte sie die Kreuzung. Ein Autowrack, ein umgeknicktes Verkehrsschild, so war es ihr beschrieben worden. Sehr gut. Die junge Frau sah auf ihren Armband-Computer. Das auf Knopfdruck schwach leuchtende Display zeigte die Zeit und die Richtung, die sie als nächstes einschlagen mußte, mit allen Anweisungen. Milena kannte sie ohnehin auswendig, wieder und wieder war sie alle Details durchgegangen. Sie lag gut im Plan. Jetzt galt es, die nächste Streife abzuwarten, ehe sie durch den Infrarotzaun schlüpfen konnte. Fünf endlose Minuten.
Milena kauerte sich in den Schatten einer Toreinfahrt und atmete durch. Ihre schwarze Kleidung und die dunkle Haut hoben sich nicht vom Schatten der Mauer ab. Wahnsinn, sagte sie sich, was sie hier versuchte, war Wahnsinn. Aber sie wußte auch, daß eine neue Freiheit vor ihr lag, wenn sie durchkam. Wenn.
Wie gut, daß hier im Osten die elektronische Grenzsicherung noch in ihren Anfängen lag. Es war das letzte Tor zu Europa für jene, nicht legal einreisen konnten. Nicht, daß die technischen Möglichkeiten gefehlt hätten, die Wohlstandslinie auch hier völlig dicht zu machen, aber die östlichen Republiken setzten die löchrige Grenze als Druckmittel gegen die wohlhabenderen Staaten Westeuropas ein. Kontrollen gegen Wirtschaftshilfe, so hieß hier die politische Devise. Die Schwachstelle war so die Chance der Flüchtlinge, gleich ob Hunger, finanzielle Not oder Verfolgung sie nach Europa drängen ließ. Sie war auch Milenas Hoffnung, wenngleich ihre Situation eine andere war: sie war dabei, aus Europa auszubrechen. Milena war auf der Flucht vor dem GenMed Konzern.
Es war Zeit, weiterzugehen. Ein Stück vor ihr lag der Infrarotzaun, unter dem man sich, wenn man die richtige Stelle kannte, durchschieben konnte, und dahinter die Mauer. Sie sah sich noch einmal um, dann huschte sie über die Straße.
‚Es ist Ihre freie Entscheidung. Entweder, Sie halten sich an die Lizenzbedingungen, oder sie entscheiden sich für den Inhibitor‘, hatte der Vertreter von GenMed gesagt.
‚Frei!‘ Wie Hohn klang dieses Wort in Milenas Ohren. Sie hatte die Wahl zwischen einer modernen Leibeigenschaft und einem langsamen Tod, sonst nichts. Milena trug in ihrem Körper ein patentiertes Gen des mächtigen Konzerns.
‚Es ist ein Segen, daß Sie unsere Hilfe genießen dürfen, noch vor fünfzig Jahren wären Sie längst an Ihrer Krankheit gestorben.‘
Ja, das wäre sie, hätte ihr Großvater sich nicht für die Gentherapie entschieden. Die Körper-Keimbahn-Kombitherapie war damals zur Jahrtausendwende ein Durchbruch in der modernen Medizin gewesen. Endlich waren Erbkrankheiten heilbar, und nicht nur das, man konnte sogar die Nachkommen davor bewahren. Mittels eines künstlichen Virus wurden einfach die gesunden Gene in alle Körperzellen eingeschleust - patentierte Gene. Die Lizenzgebühr schien nur ein kleiner Preis für den endgültigen Sieg über die Krankheit.
Milena erreichte den unsichtbaren Zaun. Nur die Pfosten waren mit bloßem Auge erkennbar, in einem Dutzend Metern Abstand scheinbar sinnlos in den Boden geschlagen. Mit ihrer Spezialbrille konnte sie unsichtbaren Lichtstrahlen sehen. Tatsächlich war dort, wo der Regen ein wenig Erde weggeschwemmt hatte, genug Raum, um darunter hindurch zu kriechen. Die junge Frau blickte sich um. Nichts verdächtiges war zu sehen. Gut. Sie legte sich auf den Bauch und robbte vorsichtig unter der Sperre hindurch. Noch ein paar hundert Meter.
‚Gen-Piraten gefährden Arbeitsplätze‘ war der Slogan einer Kampagne der GenMed, als die ersten Kinder der Geheilten sich weigerten, die Gebühren des Konzerns zu bezahlen. Die Gene waren Teil ihres Erbgutes, ihres Körpers. Wer außer ihnen sollte daran Rechte haben? Doch die Gerichte entschieden anders. Seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts galten Lebewesen als patentierbar. Mit einer Maus hatte es damals begonnen, und alles weitere ergab sich aus diesem Grundsatzurteil. Genmed bekam recht.
‚Wenn sie nicht zahlen wollen oder können, ist es das Recht des Lizenzgebers, seine Erbinformation in ihrem Körper zu inaktivieren.‘ Der Gerichtsbeamte blieb hart. Milena hatte eine Vorladung erhalten, und noch immer mit der Hoffnung, sich wehren zu können, war sie zum angegebenen Termin erschienen. Doch auch ein von GenMed beauftragter Arzt war dabei, und er hielt die Spritze mit dem Inhibitor bereit.
‚Machen sie bitte ihren Arm frei. Wir möchten keine Gewalt anwenden müssen.‘
Der Inhibitor war eine Substanz, die die Ablesung der patentierten Gene blockierte. Sie würde krank werden, so als wäre ihr Großvater nie von der schicksalhaften Krankheit geheilt worden. Wie viele Jahre würden ihr dann noch bleiben? Fünf, zehn? In ihrem Alter gab es nicht mehr viel Hoffnung. Dann noch eine Galgenfrist in einem Klinikbett, alles in allem ein Dutzend Jahre vielleicht, und ein qualvoller Tod.
‚Bedenken Sie, daß ihre Entscheidung endgültig ist.‘
Milena sah sich um. Ob sie durch die Tür hinausgelangen konnte? Wohl kaum, überall im Haus waren Polizeibeamte. War das Fenster erreichbar? Nein, all das war unsinnig. Sie konnte sich nicht verstecken, der Konzern war längst zu mächtig, zu sehr verflochten mit der Politik und dem Staat. Zitternd vor Wut holte sie ihre Cashcard hervor. Besiegt!
Vor Milena lag nun die große Mauer, das längste Bauwerk auf diesem Planeten. Vom Nordmeer bis zum Schwarzen Meer zog sie sich quer durch den europäischen Kontinent, schirmte sie den westlichen Wohlstand gegen die Massen der Flüchtlinge ab. Dreißig Jahre war sie nun alt, und wenn sie heute gebaut werden würde, hätte man sie sicher um tausend Kilometer nach Westen verlegt. Längst bereute man doch im Kerneuropa, die Wirtschaftsunion so vorschnell nach Osten ausgedehnt zu haben. Doch was auch für Milena vor kurzem noch ein Ärgernis gewesen war, erwies sich nun als ein Segen. Sie mußte lachen bei diesem Gedanken.
Irgendwann hatte sie sich entschlossen, den Ansprüchen der GenMed ein für allemal zu entrinnen. Milena war nun tot, verschwunden, und sie würde nie wieder auftauchen. Ihr ID-Chip, Kleider und ein wenig persönliche Habe lagen neben dem Abschiedsbrief am Flußufer, wo man sie wahrscheinlich längst gefunden hatte.
Ihre dunkle Hautfarbe, Erbe ihrer eingewanderten Vorfahren, ermöglichte ihr, als Afrikanerin aufzutreten. Sie hatte einen falschen Ausweis der Ostafrikanischen Volksrepublik gekauft, einem der wenigen Staaten, deren Code-System noch für wenig Geld zu knacken war. ‚Alicia Mbunga‘ war nun ihr Name, 31, Software-Ingenieurin aus Nairobi. Unter diesem Namen würde sie einreisen, eine neue Existenz aufbauen. Die Ungewißheit und die Schikanen des Ausländerrechts waren immer noch besser als ein Leben unter der GenMed.
Hinter der weiten, deckungslosen Rasenfläche lag die Mauer. Milena-Alicia erkannte im Dunkel die Meldedrähte auf der ihr zugewandten Seite des stachelgekrönten Betonwalls. Er war das wirkliche Hindernis an dieser Grenze, und sie zweifelte daran, daß sie ihn hätte überwinden können. Hier wäre wohl das Ende ihrer Flucht gewesen, aber Alicias Plan war viel einfacher. Es würde genügen, wenn man glaubte, daß sie von der anderen Seite kam. Sie trat an die Sperre und streckte langsam die Hand aus. Von hier aus gab es keinen Rückweg.
Vorsichtig berührte sie einen der Drähte.
Scheinwerfer flammten auf, und eine Sirene heulte irgendwo in unmittelbarer Nähe. Alles war taghell erleuchtet. Vom nahen Wachturm drangen aufgeregte Stimmen zu ihr herüber, Hundgebell und endlich das Klappern eisenbeschlagener Militärstiefel auf dem Weg. Alicia lächelte für einen Moment zufrieden, ehe sie eine panische, verschreckte Miene aufsetzte.
„Stehenbleiben“ rief eine Männerstimme, und Alicia duckte sich in den Schatten eines Betonpfostens. Zwei Wachsoldaten, von einem Schäferhund begleitet, kamen auf sie zu. Die beiden waren mit Maschinenpistolen und Schlagstöcken bewaffnet. Der Hund drängte knurrend nach vorne, von seinem Führer nur mühsam zurückgehalten.
„Sieh an, eine Negerin!“ lachte der augenscheinlich Ranghöhere der beiden. „Mitkommen, Nigger, und dann ab nach drüben!“
Die junge Frau hatte nichts anderes erwartet. Sie folgte gehorsam einige Schritte, dann blieb sie stehen. Ihre Hand fuhr in die Tasche, und sie raschelte mit einem Bündel Geldscheine. Der Offizier sah sie an und hob die Augenbrauen.
Eine Alicia Mbunga hätte keine Chance gehabt, die Grenze an einer offiziellen Kontrollstelle zu passieren. Dort saßen Unionsbeamte aus dem Westen, die peinlich genau die Beachtung der Einreisebestimmungen überwachten. Ohne zuvor vom Arbeitgeber bestätigte und den Grenzbehörden fristgerecht gemeldete ‚Bescheinigung über wirtschaftliche und soziale Selbständigkeit‘ konnten Fremdarbeiter nicht einreisen. Asyl wurde ohnehin nie gewährt, die Logik der Gesetze war lückenlos. Hinter der Grenze jedoch, bei den lokalen Behörden, ließ sich mit Geld manches nachträglich arrangieren. Das war das Schlupfloch für jene, die es über die Mauer schafften, und ein gutes Zubrot für die Beamten.
„Kommen Sie“, sagte der Soldat nun lächelnd. „Mir scheint, daß Ihr Fall genauer geprüft werden muß."
Das Amt für Seuchenkontrolle war die letzte Station für Alicias teuer erkauften Weg durch die Bürokratie der Einreisebehörde. Sie war zufrieden, ihre gefälschten Papiere waren akzeptiert worden, und ein paar Scheine halfen über die letzten Unstimmigkeiten hinweg. Die letzte Hürde der Untersuchung war für sie nur eine reine Formalität.
Die Ärztin der Einreisebehörde nahm Alicia Mbungas gesundheitliche Daten auf. „HIV-Schutzimpfung? - Hepatitis C - Polio?“
Alicia nickte jedesmal.
„Hatten Sie Malaria?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Gut. Ich muß Ihre Angaben natürlich überprüfen. Machen Sie bitte ihren Arm frei.“ Vorsichtig stach sie die Kanüle in eine Vene. Der Medicomat zog automatisch eine Blutprobe, und auf dem Bildschirm tauchten nach kurzer Zeit Zahlen und Symbole auf. Die Ärztin las die Daten und nickte zufrieden. „Alles in Ordnung, sie sind völlig gesund. Allerdings tragen Sie ein nicht lizenziertes Gen, das Eigentum der Genmed ist. Ich muß Sie registrieren lassen.“
Diese Geschichte ist bereits in der SF-Zeitschrift Alien Contact (Nr. 24, 1996) erschienen.

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