Zahnradträume
für Marlis
Aron versuchte, sich völlig lautlos zu bewegen, aber das Rascheln von Laub unter seinen Füßen schien ihm unüberhörbar zu sein. Das letzte Abendlicht und die ersten Strahlen des Mondes erhellten den schmalen Pfad nur schwach, und immer wieder trat er ins Unterholz. Das Knacken der Äste mußte ihn weithin ankündigen.
Um ihn herum und überall im Wald schwebten dutzende Glühwürmchen, als ob sie einen lautlosen Reigen tanzten. Sie nahmen keine Notiz von ihm. Es war, als ob sie zu einer anderen Wirklichkeit gehörten, die zwar sichtbar war, aber von seiner nicht beeinflußt wurde. Er wußte, daß es Käfer waren, die immer zur Sonnenwende die Wälder bevölkerten, aber waren sie nur Käfer? Oder gehörten sie zur Welt der Mar, und er konnte nur einen kleinen Teil von ihnen wahrnehmen, der wie ein Insekt aussah? Warum sonst sollten Käfer leuchten?
Eine Eule rief, irgendwo brach ein Zweig, und Aron blickte sich erschrocken um. Außer Leuchtkäfern und dunklen Schatten war nichts zu sehen. Er blieb einige Atemzüge lang reglos stehen. Was fürchte er eigentlich? Hatte er Angst, SIE zu verjagen? Konnte es sein, daß ihm jemand folgen würde, oder daß böse Geister auf ihn aufmerksam wurden? Immer wieder sagte er sich, daß er nichts davon zu fürchten hatte, doch in der Dunkelheit schien der Verstand wertlos zu sein. Er sah Gesichter in den Schatten und Gestalten in den Lichtern. Vernunft? Er war unterwegs, um eine Mar zu treffen!
Das Blätterdach wurde etwas lichter, als er den Bachlauf erreichte. Hier war der Weg besser zu finden, und das sanfte Plätschern des Wassers ließ seine Schritte weniger laut erscheinen.
Er war nach Mullberg bekommen, um den Mar zu begegnen. Zwar lebten sie überall, aber obwohl sie fast menschlich aussahen, hielten sie sich von den Siedlungen fern. Aron hatte mehr Märchen über sie gehört als Berichte von wirklichen Begegnungen. Und bei vielen dieser Erzählungen war es schwer, zwischen Wahrheit und Phantasterei zu unterscheiden. Würde sie überhaupt kommen? Er wußte nur, daß sie wie eine schöne junge Frau mit blauen Haaren aussah.
Die Lichtung war nicht mehr weit, als er eine Bewegung zu seiner Linken bemerkte. Er blieb stehen und konnte nichts entdecken, doch als er einige Schritte machte, nahm er erneut etwas Dunkles wahr, das ihn zu begleiten schien. Wieder hielt er inne. Einige Meter von ihm entfernt schwebte eine schwarze Kugel über dem Bach, kaum größer als eine Kirsche. Aron hielt den Atem an. Warum hatte er sich hierher gewagt?
Als hätte sie ihre Entdeckung bemerkt, glitt die Kugel nun auf ihn zu. Das Schwarz wurde zu Grau und ging in ein warmes Glühen über. Er wich zurück und stieß an einen Baumstamm. Die Erscheinung war nur noch eine Armlänge von seinem Gesicht entfernt, dann stoppte sie.
„Folge mir“, sagte sie mit Yukis Stimme und schwebte langsam von ihm weg.
Der unheimliche Lichtschein erhellte den Pfad, und während seine Schritte sicherer wurden, wuchsen seine Zweifel. Konnte sie ihm doch Böses wollen? Er wußte nichts über sie. Schwager Mehmet, der Priester, hatte stets gesagt, daß die Mar sich dem Satan verschrieben hätten. Sein Großvater hatte sie noch ‚Börga‘ genannt. Wenn man ihre Schwingungen beherrschte, so hieß es, würde man zu Macht und Reichtum gelangen. Alles andere, was er gehört hatte, war nur noch seltsamer. Vielleicht würde er jetzt mehr erfahren, aber das schien plötzlich völlig nebensächlich. Wichtiger war es, Yuki zu treffen.
Er mußte sich bücken, um unter den Zweigen der letzten Bäume auf die Lichtung zu gelangen, während die Lichtkugel einfach durch das Geäst glitt. Vor ihm lag die Wiese mit dem schilfgesäumten Teich. Davor stand eine helle, schlanke Gestalt. Sie streckte einen Arm aus, und Aron folgte langsam ihrer Einladung. Die Kugel landete auf ihrer Hand und schien einfach in ihr zu versinken. Das Licht verlosch.
„Schön, daß du gekommen bist!“
Ihr seltsamer Akzent hatte plötzlich etwas beruhigendes, merkwürdig vertrautes. Er hatte sie erst einmal sprechen gehört, aber nun war er sicher, daß sie es war.
„Komm hier herüber.“ Sie wies ihm den Weg zu einem Baumstamm am Ufer, und Aron folgte mit einigen Schritten Abstand. Sein Herz klopfte so heftig, daß er befürchtete, sie könne es hören. Eine kleine Lampe leuchtete auf. Sie hatte keine Flamme, es war eher eine Lichtkugel wie jene, die ihn geführt hatte. Sie verbreitete ein sanftes Licht, und nun konnte er auch Yukis Gesicht erkennen.
Vor zwei Wochen war Aron zu Hause aufgebrochen. Nach sechs Tagen Wanderung, die ihn fast sein ganzes Erspartes für Wegezoll gekostet hatten, war er endlich bei Onkel Petro und Tante Jessy eingetroffen. Es hatte nur noch dieses Ziel gegeben, seit Petro während seines Besuchs im Frühling von den Mar auf dem Markt von Mullberg erzählt hatte.
Am lautesten hatte Mehmet protestiert, der als Priester wohl nicht anders konnte, als das fremde Volk zu verdammen. „Sie waren einmal wie wir, aber sie haben sich vom reinen Weg abgewendet. Sie haben sich Kräften verschrieben, die nicht Sache der Menschen sind“, klangen seine Worte Aron noch in den Ohren. „Es gehört sich nicht, sich mit ihnen einzulassen, du wirst nur deine eigene Seele gefährden.“ Für die Krankheiten, die sie heilen könnten, seien sie selber die Ursache, und sogar für harte Winter und schlechtes Wetter gab er ihnen die Schuld. Es hatte langer Diskussionen bedurft, um von der Familie die Erlaubnis zu erhalten, Petro wenigstens den Sommer über besuchen zu dürfen. Noch wußte Aron nicht, ob er wirklich zurückkehren wollte.
Mullberg selbst war eine große Enttäuschung. Den Ort, in dem man Mar treffen konnte, hatte er sich als etwas besonderes vorgestellt. Zwar wußte er nicht, was er eigentlich erwartet hatte, aber das Städtchen mit den Feldern und Weiden, einer Kirche, den Holzhütten und den schlammigen Wegen, auf denen Schweine und Hühner frei umherliefen, ähnelte, auch wenn es größer war, zu sehr seiner eigenen Heimat. Wie dort gab es eine Mühle, einen Schmied, und einen Meister, der im größten Haus wohnte und die Einwohner vor Bedrohungen schützte, von denen er selber die schlimmeste war. Nur der Markt, der einmal im Monat stattfand, war bemerkenswert, denn er hatte außergewöhnliche Besucher.
Heute war es endlich so weit. Tante Jessy war Tuchhändlerin, und Aron mußte an ihrem Stand helfen. Damit war er zu seinem Bedauern nicht im Zentrum des Geschehens, denn die Mar kauften praktisch nur Gemüse, Obst und andere Lebensmittel. Weder teure Tuche noch wertvolle Metalle, Schmuck oder Waffen interessierten sie mehr denn als Kuriosität. Für Lebensmittel dagegen zahlten sie jeden Preis, den man verlangte. So bot Jessy immerhin einige selbstgebackene Lebkuchen und inzwischen ziemlich schrumpelige Äpfel vom letzten Jahr an, wie viele anderen Stände auch. Jessy ließ sie ihn so drehen, daß die schon zahlreichen faulen Stellen nicht zu sehen waren.
Die Zeit verging, und als Aron schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, sah er sie endlich. Eine Gruppe Mädchen schlenderte an ihm vorbei. Sie sahen wirklich fast wie Menschen aus, nur etwas größer und seltsam gekleidet. Sie trugen keine Kopftücher, und ihre bunten Haare waren zu merkwürdigen Frisuren gesteckt. Dann hielten sie inne, eine zeigte zu den Lebkuchen an seinem Stand, und eine andere direkt auf ihn. Sie kicherten, ganz so, wie auch Menschenmädchen es taten.
Die fünf kamen heran und betrachteten sich die Stoffe. Sie betasteten sie, eine von ihnen lachte, eine schüttelte darüber den Kopf. Selbst die feinsten Tuche an Jessys Stand wirkten grob gegen das Material der Mar-Kleider, an dem Aron weder Fäden noch Nähte erkennen konnte. Trotzdem schauten sie sich alle Ballen an, verglichen die Muster und hielten einige hoch, wie um zu prüfen, ob sie ihnen stehen würden. Tante Jessy sah ihrem Treiben mißbilligend zu, aber sie sagte nichts. Aron beobachtete die fünf aufmerksam. Ein Mädchen mit himmelblauen Haaren, die, anders als jene ihrer aufwendig frisierten Begleiterinnen, nur lang und glatt über die Schultern hingen, gefiel ihm besonders. Sie hatte hohe Wangenknochen und blasse Haut, die in einem seltsamen Gegensatz zu ihren dunklen Augen stand.
Ihre Sprache klang fremd und zugleich seltsam vertraut. Er versuchte, ihre Gespräche zu erlauschen, aber er verstand nur einige Worte und Satzfetzen, die meist keinen Sinn zu ergeben schienen. hübsch“ glaubte er gehört zu haben, „rauh wie Glasgurken“ und „süß“.
Die blauhaarige bemerkte seine Blicke und lächelte ihm zu. Sie sagte etwas zu ihren Freundinnen, und nun schauten auch diese immer wieder verstohlen zu ihm herüber.
„Zehn davon“, sagte schließlich ein rothaariges Mädchen mit drei schlangenartigen Zöpfen und wies auf die Lebkuchen. Sie hielt ihm eine Handvoll Kupfermünzen hin. Aron nahm den richtigen Betrag und reichte ihr die Tüte mit dem Gebäck.
Die junge Frau mit den blauen Haaren hatte sich unterdessen den Äpfeln zugewandt. Sie schien die anderen zu fragen und sagte dann: „drei, bitte.“
Aron griff schon nach dem Obst, aber dann sah er wieder ihre Augen, ihr Lächeln. Er hatte sie vor wenigen Minuten zum ersten Mal gesehen, aber plötzlich schien sie der Mittelpunkt seines Denkens zu sein. Er blickte sich um. Seine Tante war nicht in der Nähe. „Nein, die sind nicht gut genug, nimm lieber die da drüben.“
Sie sah ihn einem Moment lang überrascht an. Dann lächelte sie aufs Neue, nickte und ging wortlos zum Stand nebenan, auf den Aron gewiesen hatte.
Aron sah ihr nach. Sie war gegangen, und wahrscheinlich würde er sie nie wieder sehen. Sie, seine erste Mar, die so überraschend menschlich gewesen war. Sie wäre kostbare Sekunden länger geblieben, hätte er ihr die alten Äpfel verkauft. Nun schoben sich Passanten zwischen sie, und er verlor sie endgültig aus den Augen.
Mit einer Tüte Äpfel im Arm kam sie kurz darauf wieder an seinem Stand vorbei. Ihre Freundinnen beachteten ihn nicht, aber sie hielt kurz inne, trat an den Stand und blickte ihm sekundenlang in die Augen.
„Ich bin heute Nacht im Wald, an der Lichtung mit dem See“, flüsterte sie.
Ihre Freundinnen schienen es nicht gehört zu haben. „Yuki, komm.“ Dann trieb die Gruppe zwischen den anderen Marktbesuchern davon. Yuki.
Sie setzte sich auf den Baumstamm am See, zog die Beine an und legte ihre Arme auf die Knie. Aron nahm in gebührendem Abstand Platz. Die seltsame Lampe stand zwischen ihnen und beleuchtete sanft ihr Gesicht. Sie sah ihn an, dann senkte sie den Blick. Zum ersten Mal hatte er die Gelegenheit, sie genauer zu betrachten. Yuki war hochgewachsener als alle Frauen, die er kannte, das war selbst im Sitzen noch auffällig. Ihre großen Augen waren dunkel umrandet. Aber waren sie heute Mittag nicht fast schwarz gewesen? Nun schienen sie ihm eher grün zu sein. Ihre schmalen Augenbrauen begannen und endeten mit einem rot funkelnden Edelstein, je einem größeren über der Nase und einem kleineren zur Schläfe hin. Eine silberne Schlange wand sich am Rand ihres rechten Ohres entlang.
Für eine endlose scheinende Weile war nur das Quaken der Frösche zu hören. Warum hatte er nicht schon unterwegs darüber nachgedacht, wie er das Gespräch beginnen könnte? Jede Frage, die ihm nun einfiel, schien ihm unhöflich, peinlich oder einfach dumm. Sollte er einfach etwas über sich erzählen? Aber was könnte ein Mensch einer Mar berichten?
Schließlich war es Yuki, die das Schweigen brach. „Wie heißt du?“ Ihre Stimme klang sanft.
Er war einen Augenblick lang überrascht, und dann mußte er lachen. „Sorry, das habe ich ganz vergessen. Ich bin Aron. Und du bist Yuki?“
Sie war siebzehn wie er, und auch sie war extra wegen des Marktes angereist. Plötzlich war das Reden leicht geworden.
„Wie weit war dein Weg? Bist du lange geritten?“ wollte Yuki wissen.
„Geritten?“ Aron lachte. „Ich habe kein Pferd, so etwas kann sich meine Familie nicht leisten.“ Seine Antwort war ihm sofort peinlich. Er blickte auf ihren Schmuck. Nach menschlichen Maßstäben mußte er ein Vermögen wert sein.
„Aber wie bist du dann hergekommen?“
Aron erzählte von seiner Wanderung, der kurzen Fahrt mit dem Ochsenkarren eines Händlers und den schlechten Wegen auf der Abkürzung über die Berge. Den größten Teil der Strecke hatten die Umwege um das Marland ausgemacht.
„Eine Woche? Dir müssen die Füße wehgetan haben“, stellte Yuki bestürzt fest.
„Manchmal, ja.“ War das so erstaunlich? „Wie lang war deine Reise?“
„Eine Stunde“, antwortete sie kleinlaut. „Ich bin mit – mit einem Wagen gekommen. Wahrscheinlich war mein Weg nicht ganz so weit.“
Er erinnerte sich an Erzählungen von fliegenden Kutschen. Wurden sie von Pferden gezogen? Er traute sich nicht zu fragen. Wie sah ihre Welt aus? Die nächste Grenze zum Gebiet der Mar lag nur einen Tagesmarsch westlich, doch was sich jedoch hinter der unsichtbaren Linie befand, wußte niemand. Die Sprites ließen keinen passieren.
„Stimmt es, daß eure Häuser aus Glas sind?“
„Nein, das gab es früher einmal. Aber einige sind durchsichtig, falls du das meinst.“
„Deines auch?“
„Nein. Wir wohnen in einem Haus aus – einem Baum, das trifft es vielleicht am besten.“
„Aus Holz?“ Er hatte weniger Banales erwartet.
„Ja, und nein. Unser Haus ist eine Art Baum. Aber er hat die Form eines Hauses. Wenn wir noch ein Zimmer brauchen, dann wächst eben eins.“
„Unseres ist aus Brettern, und für neue Zimmer gibt es keinen Platz.“ Seine Stimme klang für einen Augenblick bitter, und seine Lebensumstände schienen ihm plötzlich beschämend primitiv. Yukis Haus stellte er sich hingegen als ein phantasisches Gebilde aus Räumen auf verschiedenen Ebenen vor, mit Ästen und Treppen verbundenen, ein immer weiter in die Höhe wachsendes, verzaubertes Schloß. Aron sah sie an und versuchte, sie sich als Prinzessin vorzustellen. Es paßte zu ihr!
Aber eins verstand er nun noch weniger als zuvor: „Wenn ihr sogar Häuser wachsen lassen könnt, warum kauft ihr dann Äpfel? Gibt es bei euch keine?“
„Schon, aber Eure sind zur Zeit richtig Top.“
„Top?“
„Das heißt, man muß sie manchmal haben, wenn man dazugehören will. Sie sind natürlich, das ist das besondere daran.“
Aron sah sie ratlos an. „Was sollen sie sonst sein? Sie wachsen am Baum.“
„Schon, aber eure sind von Hand gepflanzt, von Hand geerntet, nicht –“ Yuki suchte nach passenden Worten. „– verändert. Sie sind Äpfel, wie sie früher einmal waren.“
„Eure sind verändert? Wie das?“ Er verstand nicht, was sie meinte.
„Zum Beispiel schmecken sie anders.“
Aber wenn sie nicht mehr wie Äpfel schmeckten, dann waren sie doch keine Äpfel mehr. Was meinte sie? „Hat es etwas mit Schwingungen zu tun?“ riet er.
Diesmal war Yuki verwirrt. „Was meinst du damit?“
„Ihr benutzt doch Schwingungen und Energien, um – um – na ja, um die Dinge zu machen, wie ihr sie wollt.“
Yuki runzelte die Stirn. „Meinst du Zauberei oder so etwas?“
„Das wollte ich nicht sagen!“ Er machte hastig ein Zeichen, bei dem er seine Stirn und Brust berührte. „Bitte entschuldige.“
Sie schüttelte den Kopf. „Da ist nichts, was ich entschuldigen müßte. Du hast das nur falsch verstanden. Das hat nichts mit Zauberei zu tun. Das ist Nanomik.“
Aron versuchte vergeblich, sich einen Reim darauf zu machen. Waren die Schwingungen nicht negativ, wenn sie Äpfel veränderten? Ihm war klar, daß er nicht genug darüber wußte, um ihre Erklärung zu verstehen. Auf keinen Fall wollte er diese erste Begegnung mit einer Diskussion über die Sündhaftigkeit ihrer Energien verderben. Es gab so viel, was er wissen wollte. Ihre merkwürdigen Kräfte gehörten dazu, aber er wollte sie nicht mit seinen Fragen in die Flucht schlagen. Und im Moment brannte er vor allem darauf, mehr über Yuki selbst zu erfahren. Selbst ihr Kleid irritierte ihn, denn die Pflanzenmuster auf dem glänzenden Stoff bewegten sich, wuchsen, blühten und vergingen langsam, aber doch wahrnehmbar. Schließlich riß er sich davon los.
„Bist du in die Schule gegangen? Ich meine, falls ihr so etwas habt“, wich er aus.
Yuki lachte. „Natürlich. Ich gehe noch immer zur Schule.“
Wieder war Aron von ihrer Antwort verblüfft. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Ich war drei Jahre in der Schule.“
„Bei uns sind 15 Jahre normal“, sagte sie nun leiser.
„Aber was kann man so lange lernen? Sogar Priester haben ja nur 7 Jahre!“
„Es gibt doch so viel zu wissen. Warum sollten nur Priester länger zur Schule gehen?“
„Sie müssen die Bibel und den Koran können“, stellte Aron das Selbstverständliche fest.
„Aber es gibt doch so viel mehr zu wissen, so viel mehr Bücher, um es mal daran zu messen!“
Er hob die Brauen. „Wie viele?“
„Es gibt –“ Sie stockte kurz. „Viele viele Tausend.“
Natürlich wußte er, daß es früher mehr Bücher gegeben hatte, aber die meisten verbliebenen waren von der Kirche verboten worden. Aron nahm sich vor, seinen Onkel danach zu fragen. Aber wie viele Bücher konnte man auswendig lernen, und welche waren außer den heiligen Schriften überhaupt wichtig?
„Bei uns gab es auch einmal mehr Bücher, sagt mein Onkel. Aber sie haben zu funktionieren aufgehört, als die Energien nicht mehr geflossen sind.“ Er sprach nicht weiter. ‚Seit die Mar sie uns weggenommen haben‘, hatte er sagen wollen, aber konnte er sich auf das verlassen, was die Priester erzählten?
„Das ist schade. Ihr versäumt etwas.“
Er nickte. „Ich hatte ein Kinderbuch, mit dem ich Lesen gelernt habe. Es hat von einer freundlichen Fee gehandelt. Wir haben es den Priestern nie gezeigt.“
„Das war sicher besser so“, bestätigte Yuki mit einer seltsamen Mischung aus Schmunzeln und Stirnrunzeln. „Wir, meine Schwester und ich, hatten auch ein Buch, das wir niemandem zeigen konnten. Ich werde es dir mitbringen.“
Sein Herz begann schneller zu schlagen. Das hieß, er würde sie wiedersehen!
Sie hatte weit mehr zum Thema Bücher zu erzählen als Aron, aber er genoß es, ihr zuzuhören. Auch wenn er nicht alles verstand, lernte er eine Menge über ihre Welt. Und was wichtiger war, er erfuhr viel über Yuki. Als nach einer Weile noch einmal Stille einkehrte, empfand er sie nicht mehr als störend. Ihre Blicke trafen sich immer öfter, und irgendwann fanden sich ihre Fingerspitzen.
Dann, die Frösche hatten bereits zu quaken aufgehört und das letzte Wort war einige Minuten her, begann sie, Musik zu machen. Sie schloß die Augen und bewegte ihre Finger eigentümlich in der Luft. Musik erklang, als ob sie die Saiten eines Instruments streichen würde. Der Rhythmus einer Trommel mischte sich in die Melodie, als sie mit dem rechten Fuß wippte. Es klang traumhaft, schwebend, und der Klang schien sie beide zu umgeben, ohne von einer bestimmten Stelle zu kommen.
„Wundervoll. Machst du das mit Energie?“ frage er, als sie ihr Stück beendet hatte.
Sie schaute ihn eine Weile an, und er versuchte vergeblich, ihren Ausdruck zu deuten. Hatte er etwas falsches gesagt?
„Ja.“, antworte sie schließlich, „mit Energie.“
Yuki sah Aron lange nach.
Als er sicher im Wald verschwunden war, nahm sie ihren Com vom Baumstamm, und das Licht erlosch. Mit einem Mindpick, kaum mehr als einem gezielten Gedanken, rief sie Geena. Das Partikeldisplay stieß eine blau leuchtende Wolke Nanoteilchen aus, die sich zum Bild einer Frau ordneten, nackt, ohne Haare und Geschlechtsmerkmale, einen halben Meter hoch.
„Ich habe dir gesagt, daß es sinnlos ist“, stellte Geena resigniert fest.
„Wie kommst du darauf, das es sinnlos war?“
„Er hat nichts begriffen, was du gesagt hast.“
„Darauf kommt es nicht an“, gab Yuki wütend zurück. „Ich bin nicht als Lehrerin hier!“
„Aber um mit ihm zu reden. Ihr habt überwiegend aneinander vorbeigeredet und immer das Thema gewechselt, wenn es drohte, offensichtlich zu werden.“
Yuki schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe nur versucht, nicht über Religion zu reden.“
„Religion ist die Weltsicht der Eloi. Du kannst nicht mit ihnen sprechen, ohne darüber zu reden.“
„Mag sein, daß er nichts von Technik versteht. Aber sogar er wußte, daß das Aerophon Energie braucht“, stellte Yuki trotzig fest.
„Du verwechselst Begriffe und Inhalte. Energie ist für ihn ein anderes Wort für Zauberei. Er hätte genausogut ‚Linsensuppe‘ sagen können, das wäre fast weniger falsch gewesen.“
„Was ist Linsensuppe?“
Geena seufzte. „Das war etwas zum Essen. Selbst wenn du seine Sprache benutzt, meinen eure Worte nicht das gleiche.“
Yuki schloß die Augen, während sie das Gespräch mit Aron Revue passieren ließ. Die blaue Gestalt über dem Com blieb reglos.
„Du hast nur teilweise Recht, du verwechselst die Ebenen genauso“, stellte Yuki endlich fest. „So lange er keine anderen Erklärungsmuster hat, sind Magie und Wissenschaft nicht zu unterscheiden.“
„Dann behauptest du also, daß er sich geistig noch in der Bronzezeit befindet?“ Geena lachte kurz. „Nein, so weit würde ich nicht gehen.“
Sie erntete einen wütenden Blick Yukis. „Was hast du überhaupt gegen die Eloi?“
„Nichts. Ich glaube nur nicht, daß ihr eine gemeinsame Zukunft habt.“
„Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit.“
„Ihr hattet.“ Geena setzte sich im Schneidersitz. „Aber das ist lange her. Die Spaltung ist älter als die Grenze, sie begann schon als soziale Trennung im kapitalistischen System. Du bist mit dem Konzept des Kapitalismus vertraut?“
Yuki nickte.
„Gut. Als er sich aufzulösen begann, waren immer mehr Menschen permanent ohne Beschäftigung. Je mehr Produktionsvorgänge automatisiert wurden, desto komplexer wurde die verbleibende Arbeit und desto schneller veränderte sie sich. Wer längere Zeit arbeitslos war, hatte keine Hoffnung auf Wiedereinstieg. Mit der Kommerzialisierung von Schule und Bildung konnten die Kinder der verarmten Bevölkerungsteile weder Ausbildung noch Arbeit erreichen. Viele stiegen ab, aber Aufstieg wurde unmöglich. Es entstanden Elendsviertel und dann Barackensiedlungen. Anfangs versuchte man, dem Problem mit Hilfsprogrammen zu begegnen, dann ließ man ihm aus Kostengründen seinen Lauf, und schließlich baute man Zäune, um die besseren Teile der Städte vor den Armen zu schützen.“
„Was ich nie verstanden habe: man hatte doch Regierungen, warum haben die nichts getan?“
Geena verzog den Mund. „Sie waren die Vertreter der Wohlhabenden, und der Marktliberalismus war die alles beherrschende Ideologie. Aber selbst wenn sie gewollt hätten, die Regierungen hatten längst weder die Macht noch das Geld.
„Mit der zweiten Informationstechnischen Revolution reichten alte Leitungen für Netzwerkdienste nicht mehr aus, und neue wurden nur gelegt, wo sich das finanziell lohnte. Slums und ländliche Gebiete wurden nicht mehr versorgt und mit dem Ausfall alter Geräte und Kabel auch von den Low-Speed-Diensten abgeschnitten.
„Es bildeten sich zwei Gesellschaften, eine prämoderne Informationsgesellschaft an der Schwelle zum Nanozeitalter, und eine Slumgesellschaft, in der organisierte Verbrecher nach und nach die Rolle von Feudalherren einnahmen. Als die letzten Arbeiter in Rohstoff- und Nahrungsversorgung der Wohlhabenden durch Intellomaten ersetzt wurden, brachen die wirtschaftlichen Kontakte ganz ab. Religiöse Gruppen bestimmten das Leben in den so genannten Sozialzonen. Der Rest an Bildung beschränkte sich im wesentlichen auf ihre heiligen Schriften. Das Wissen um basale Technik ging schon vor dem Auftauchen der Prophetin und den Hungersnöten weitestgehend verloren. Die – “
„Ja, ja, ich weiß“, unterbrach Yuki ungeduldig. „Das ist Schulwissen.“
„Aber du scheinst es zu verdrängen. Seither haben sie nichts von dem, was eure Zivilisation ausmacht. Sie versuchen noch nicht einmal, ihr Mittelalter wieder zu verlassen. Aron ist ein Produkt dieser Geschichte. Er ist nicht nur dieses eine Jahrhundert, sondern durch den Verfall ihrer Kultur fast ein Jahrtausend Geistesgeschichte von dir entfernt.“
„Das läßt sich schneller aufholen, als es verloren wurde!“
Geena schüttelte den Kopf vehementer, als es für eine Nori angemessen erschien.
„Du beurteilst ihn nach deinen Datenquellen, aber ich bin ihm begegnet.“
„Ich hatte Audio.“
„Das ist es nicht! Wie kannst du nur so vergessen, wo du herkommst?“
„Ich bin nie gewesen, was du in mir sehen willst. Der Scan deiner Großmutter war mein Seed, mehr nicht.“
„Ja, und du bräuchtest menschliche Emotionen, um ihn zu verstehen und beurteilen zu können. Er ist – ist –“ Yuki rang verzweifelt nach Worten, aber fand sie nicht. „Aber er ist einfach süß!“
„Richtig. Aber du meinst kindlich.“
„Nein! Unschuldig.“
„Du meinst frei von jeglicher Ahnung. Und du siehst ihn nicht objektiv.“
„Natürlich nicht. Ich bin schließlich keine Nori.“
Aron, der am Waldrand noch einmal innegehalten und sich umgeschaut hatte, beobachtete aus dem Schutz der Bäume heraus das Gespräch zwischen Yuki und dem Lampengeist. Obwohl er nichts verstehen konnte, versetzte ihm dieser Anblick einen tiefen Stich. Sie war mit Geistern im Bunde, ganz wie die Priester behaupteten!
Er wandte sich ab und suchte seinen Heimweg durch den nächtlichen Wald. Seine Begeisterung war einer seltsame Mischung aus Enttäuschung und Schuldgefühl gewichen. Warum hatte er sich umgedreht, warum war er stehen geblieben? Dann schlichen sich neue Zweifel ein. Die Begegnung mit der Mar war so anders verlaufen, als er es erwartet hatte.
Als er den Waldrand erreichte, war das Schwarz des Nachthimmels längst einem dunklen Blau gewichen. Die ersten Hähne krähten, aber er schaffte es, ins Bett zu kommen, ohne irgend jemandem zu begegnen. Beim Frühstück blieb er schweigsam. Seine Gedanken waren bei Yuki, und er versuchte, die Erinnerung an ihr Gesicht wachzuhalten. Später dann, beim Sichten einer Lieferung Stoffballen, fand er die passende Gelegenheit, Fragen zu stellen.
„Onkel, hast du die Stoffe der Mar gesehen?“
Petro nickte. „Kein Wunder, daß sie unsere nur komisch finden.“ Er zog einen Zipfel aus dem Inneren eines kleinen Ballens heraus. „Jetzt schau dir diesen Mist an, an einem Ende viel dichter als am anderen, da ist wieder jemand am Webstuhl eingeschlafen.“ Er warf die Tuchrolle zu Aron herüber. „Man müßte wissen, wie das Marzeug gewebt wird!“
„Du meinst also, es ist gewebt?“
„Was sonst?“ Es klang, als hätte Aron eine wirklich dumme Frage gestellt.
„Ich habe ein Kleid gesehen, das lebendig war. Es hat sich bewegt, es sind Bilder darauf gewachsen.“
Der Onkel hob die Augenbrauen. „Das wäre der Hit, wenn wir das hätten. Aber auf dem Markt habe ich sowas noch nie gesehen.“
„Es war nicht auf dem Markt. Ich bin einer Mar im Wald begegnet.“ Er biß sich auf die Lippe und setzte nach: „Auf dem Weg hierher.“
„Du solltest dich mit Osman dem Schmied unterhalten. Er beschäftigt sich mit den Energien der Mar. Nur erzähle es nicht deiner Tante, Jessy versteht sich zu gut mit dem Großpriester.“
Am Nachmittag konnte sich Aron endlich auf den Weg zu Osman machen. Die Werkstatt, eine offene Bude mit Feuerstelle und Blasebalg, Werkzeugen und halbfertigen Werkstücken hatte er schnell gefunden, aber der Schmied selber war nicht zu sehen. Aron sah sich um, begutachtete eine halbfertige Egge auf der Werkbank und schaute dann durch eine Tür, hinter der er einen Stapel seltsamer, altertümlicher Metallteile sah, silbrige oder schwarze Kästen mit Rädchen und Schiebern, teils verbogen und zerbrochen, teils glänzend und fast neu erscheinend.
„Was hast du hier zu stöbern?“ Die Stimme kam von oben.
Aron dreht sich um und erblickte einen stämmigen Riesen mit Lederschürze, der ihn um fast zwei Köpfe überragte. Er hatte krauses, blondes Haar und grüne Augen.
„Ich wollte nicht stören. Aber ich möchte etwas über die Mar erfahren.“
Der Schmied lachte bitter. „Was willst du hören? Eine nette Gruselgeschichte? Verschwinde!“
„Nein,“ entgegnete Aron mit gespielter Selbstsicherheit. „eher etwas über Energien und über lebendigen Stoff.“
„Über lebendigen Stoff müßtest du erst einmal mir etwas erzählen.“ Osman sah ihn zweifelnd an. „Komm herein.“
Bei einem Krug Bier berichtete Aron über Yukis Kleid und Lampe, ohne zu verraten, wie er sie getroffen hatte. „Wie kann das sein? Sind die Bilder lebendig, oder der Stoff?“
„Das ist schwer zu entscheiden, ich habe noch nie von so etwas gehört. Aber die Mar haben viele seltsame Dinge.“ Der Schmied legte den Kopf schief. „Ich denke, es ist der Stoff. Vielleicht träumt er. Du weißt, das alle Dinge eine Seele haben?“
Aron nickte. Die Kirche behauptete zwar anderes, aber viele im Dorf glaubten daran. Vielleicht waren die lebendigen Dinge der Mar der Beweis.
„Es gibt verschieden Arten von Seelen“, fuhr Osman fort, „ein Stein hat eine andere als ein Baum. Die Sachen der Mar haben eine Seele aus Zahnrädern. Wie die in einer Mühle, aber kleiner. Und aus Metall.“
Er stand auf und holte eine silberne Kiste von jenem Stapel, den Aron zuvor entdeckt hatte. Auf einer Seite gab es Knöpfe mit Symbolen, auf der anderen eine schwarze Schnur mit einem seltsamen, zweispitzigen Ende. Der Deckel ließ sich öffnen, und Aron schaute hinein. Im Inneren bildeten Hebel, Zahnräder und Drähte einen Mechanismus, viel komplexer als alles, war er bisher gesehen hatte.
„Woher hast du das? Haben sie es dir geben?“
Osman lachte. „Nein, das ist nicht von den Mar, es ist Menschenwerk, aus der Zeit vor der Prophetin. Am Stinkenden Hügel südlich von hier ist mehr davon vergraben. Heute ist es nutzlos, ohne Energie, ich weiß nicht einmal, wozu es gut war. Aber das wichtige sind die Zahnräder, siehst du, wie klein manche sind?“
Aron nickte.
„Das ist nur eine ganz einfache Seele. Stell sie dir kleiner vor, mehr davon, viel komplizierter. Die Essenz von Zahnrädern.“
„Und du glaubst, auch das lebendige Kleid funktioniert so? Die Räder müssen ja winzig sein!“
„Kleiner als winzig“, bestätigte der Schmied, „das Wesen von Zahnrädern, nicht mehr die Substanz. Aber wie sollte es sich sonst bewegen? Aber ich frage mich: Ist es gewebt worden und hat dann eine Seele bekommen, oder war die Seele zuerst da?“
Aron wußte nicht, ob oder was er antworten sollte. Über solche Dinge hatte er noch nie nachdedacht. Seine Gedanken schweiften wieder zu Yuki.
„Glauben wir an die Dinge, weil sie wahr sind, oder sind sie wahr, weil wir an sie glauben?“ fuhr der Schmied fort „Ich denke, es ist das letzte. Wir glauben an unterschiedliche Dinge, und deswegen leben wir in einer anderen Wirklichkeit als die Mar. Deshalb muß die Kirche so sehr gegen die Ungläubigen kämpfen, sonst würde ihr Gott verschwinden und ihre Wunder nicht mehr funktionieren.“
„Aber sollten wir dann nicht sehen, daß wir alle das selbe glauben? Dann wäre die Wirklichkeit stärker, oder?“
„Ja, so ist es wohl“, lachte Osman. „du hast das Zeug zum Priester.“
„Nein, ich glaube nicht. Es gibt bessere Wirklichkeiten als ihre.“
„Wahr gesprochen, junger Mann. Und wir sollten daran arbeiten. Wenn du deine Mar wieder treffen solltest, versuche mehr zu erfahren. Was müssen wir glauben, um die Seelen dieser Dinge wieder zum Leben zu erwecken, um die Energie wieder fließen zu lassen?“ Er klopfte auf den Metallkasten, der ein schepperndes Geräusch von sich gab.
„Aber die Mar haben die Energieleitungen zerstört“, gab Aron zu bedenken.
„Nein, das war die heilige Regina.“
„Die Prophetin?“ Aron starrte ihn ungläubig an. „Das kann nicht sein!“
„Doch. Ich war auf der Priesterschule. Dort erfährt man auch einige Sachen, die nicht für die Samstagspredigt taugen. Aber die Leitungen, brauchen wir die wirklich? Hatte das lebende Kleid eine Leitung?“
„Nein“, stellte Aron erstaunt fest. So wenig wie die Lampe.
„Vielleicht war es Vorsehung, daß die Prophetin uns die Leitungen genommen hat. So müssen wir herausfinden, wie wir Energie nutzen, ohne Leitungen zu brauchen.“ Osman riß die brüchige schwarze Schnur ab und warf sie auf den Boden. „Das ist das Ziel, an das wir glauben müssen.“
Yuki hatte noch lange wach gelegen. Die letzte Nacht war so ganz anders verlaufen, als sie es sich vorgestellt hatte. Es hatte ein spannendes Abenteuer werden sollen, von dem sie ihren Freundinnen erzählen konnte. Ein wenig Mutprobe, bei der ihr doch keine Gefahr drohte, ein wenig Romantik. Das war zwar nicht wirklich verboten, aber man betrachtete es als unschicklich, die Kultur der Eloi zu stören. So waren selbst die seit kurzem beliebten Marktbesuche heftig diskutiert worden. Yuki war schon lange der Meinung gewesen, daß man den Eloi wieder echte Zivilisation bringen sollte, aber bis gestern war das nicht mehr als eine Idee gewesen, die andere umsetzen sollten. Und nun hatte sie Aron getroffen!
Ihrer Schwester erzählte sie nichts davon, als sie gemeinsam frühstückten und über Belanglosigkeiten redeten. Dann zog sich Mira zur Arbeit zurück, und Yuki blieb mit ihren Gedanken alleine. Es dauerte unerträglich lange bis zum nächsten Markt.
Sie setzte sich in einen Sessel, lehnte den Kopf in den Induktor und schloß die Augen. Geena saß ihr gegenüber, nicht klein und blau, sondern als Frau unbestimmbaren Alters mit den von Fotos vertrauten Zügen ihrer Großmutter Vivia.
„Ich denke, ich sollte um Entschuldigung bitten“, sage sie.
Yuki blickte sie erstaunt an. Eigentlich hatte sie die Post durchsehen und sich ablenken wollen.
„Es scheint als vergesse ich langsam, daß ich auch weiß, wie es sich anfühlt, jung zu sein“, fuhr Geena nachdenklich fort.
„Du hast deine Meinung geändert?“ fragte Yuki erstaunt.
„Nein, das nicht. Aber ich habe falsche Worte gewählt und dir nicht wirklich zugehört.“
Yuki nickte. „In Ordnung. Du kannst versuchen, mich geschickter zu überzeugen.“
Geena seufzte. „Oder du mich, das ist immer eine Möglichkeit.“ Sie war für Yuki eine Freundin, fast eine zweite Mutter, immer für sie da, wenigstens mit einem Teil ihrer selbst. Denn als Nori, nicht-organische Intelligenz, konnte sie Teile ihres Ichs zeitweise eigene Wege gehen lassen. Yuki hatte keine Ahnung, was Geena im diesem Moment noch alles tat. Für eine Nori war das normal.
„Kannst du ihn für mich finden?“
Geena nickte. Sie hatte Wege, die Yuki nicht offen standen. Wirklich genau wußte eigentlich niemand mehr, über welche Möglichkeiten die Nori verfügten, und einigen bereitete das Sorge. Sicher war, daß sie auch die Eloi-Gebiete mit den Staubsensoren der Umweltkontrolle überwachten. „Nimm dir Zeit.“ Dann erhob sie sich und verschwand.
Yuki blieb eine Weile still sitzen. Sie wußte, das Geena nichts leichtfertiges sagte, aber auch, daß sie sich zu viele Sorgen machte. Doch was außer einer unglücklichen Liebe sollte ihr drohen? Schließlich wies sie den Com an, außer von Geena keine Verbindungen anzunehmen. Dann stand sie auf und ging durch die Fensterwand ins Freie. Ebenso gut hätte sie sich einfach an ihr Ziel versetzen können, aber heute erschien es ihr angemessen, selbst in der virtuellen Welt auf dem Weg zu einem nicht existierenden Ziel ein gemäßigtes Tempo einzuhalten. Ihre Füße versanken in der Luft unter ihr wie in einem weichen Teppich. Ein schwebendes Gebäude im Stil einer gotischen Kathedrale ohne Türme kam näher.
Yuki ließ sich die Bücher in traditionell gebundener Form zeigen. Bald hatte sie eine Auswahl der Geschichten aus ihrer Kinderzeit vor sich liegen. Es durfte nicht kompliziert geschrieben, aber doch kein Kinderbuch sein. Das grenzte die Auswahl ein. Erinnerungen wurden wach, als sie in den Bänden blätterte, dabei hatte sie doch fast alle auf dem Dyna oder dem Com gelesen. Welche hatte sie wirklich in den Händen gehabt? Als sie sich für eines entschieden hatte, ließ sie es übersetzen und transferierte die Daten auf ihren Assembler. Bis sie aus dem Induktorsessel aufgestanden war, lag das fertige Buch bereits hinter der Kristallklappe.
„Dein Buch ist fertiggestellt“, teilte der Automat freundlich mit.
„Danke! Es ist schön geworden.“
„Gern geschehen.“
Den Weg zum Lebensmittellager legte Yuki in der Realität zurück. Zwar konnte sie keine Äpfel selber pflücken, aber ihn einfach zu bestellen, schien ihr unpassend. Bis sie sich auf den Rückweg machte, war es Nachmittag, und in der weitläufigen Parklandschaft, in der von den meist niedrigen Gebäuden hinter den Bäumen nichts zu sehen war, waren nur wenige Menschen unterwegs. Ein kleiner, roter Automat, der an ein urzeitliches Krebstier erinnerte, pflegte den Rasen und grüßte, als sie vorbei ging. Sie nickte ihm freundlich zu.
„Ich habe ihn gefunden“, sagte Geenas Stimme aus dem Nirgendwo. „Er ist gerade alleine.“
Yuki setzte sich auf die Wiese neben dem Weg und aktivierte den Com. „Zeig in mir – nein, kannst du uns direkt verbinden? Einfach eine Kugel.“ Es erschien ihr falsch, ihn zu beobachten, ohne daß er es wußte.
Während sich im Partikeldisplay über dem Com ein Bild eines mit Bäumen bestandenen Bachufers bildete, stieg dort eine Wolke von Staubsensoren vom Boden auf und verdichtete sich zu einer kleinen Kugel. Die Perspektive des Displays verschob sich und nahm die Position des Schwarms ein. Sie sah Aron auf einem über das Wasser gestürzten Baumstamm sitzen, den Blick ins Nichts gerichtet. Ihr Herz klopfte heftiger.
„Aron, ich bin's Yuki. Erschrick nicht.“
Er blickte sich überrascht um. Dann entdeckte er die schwebende Kugel. „Schön dich zu – sehen?“
„Hast du heute Abend Zeit?“ Sie verabredeten sich am vertrauten Platz, doch etwas früher am Abend. Dann gab Yuki mit einer gedachten Handbewegung ein Zeichen an Geena, und die Kugel zerwehte zu Staub. Sie atmete tief durch, denn sie fühlte sich schuldig und arrogant, ihm auf diese Weise gegenüberzutreten. Aber sie war auch glücklich.
Unruhig und ungeduldig kehrte sie in die Wohnung zurück, froh, ihre Schwester nicht anzutreffen. Sie begann ein Moogie, eine interaktive Kriminalgeschichte aus der Römerzeit, brach dann ab und wählte statt dessen eins, das in einem fiktiven Universum spielte. Aber irgendetwas erinnerte sie auch hier an Aron. So entschloß sie sich, mehr über die Geschichte der Eloi herauszufinden. Die Bibliothek empfahl ihr einige Dokumoogies, aber sie entschied sich für einfache, lediglich kommentierte historische Simulationen. Auch wenn sie es Geena gegenüber nicht hatte zugeben wollen, sie hatte aus der Schule wenig davon behalten.
Nun stand sie in einem Slumviertel des alten Berlin und sah zu, wie ein Kind an einem tragbaren, aufgeklappten Computer arbeitete. Sie wußte, daß solche Geräte zu dieser Zeit längst hoffnungslos veraltet waren. Die Anzeige lief ruckelnd, und sie fragte sich, ob die quälend langen Abstände zwischen den Tastenanschlägen den mangelnden Fähigkeiten des Mädchens oder der überforderten Technik zuzurechnen waren.
Auch alles andere im Raum war schäbig, die Matratze in der Ecke zerschlissen, eine Fensterscheibe mit Pappe geflickt. Yuki spürte einen Luftzug. Obwohl es nach Schimmel roch, war der Raum überraschend sauber. „Das ist Lena, 14 Jahre alt“, sprach eine ruhige Stimme aus dem Off. „Was sie hier tut, ist illegal. Die Nutzung von nicht regelmäßig bezahlter Software konnte selbst für Kinder schwere Strafen nach sich ziehen, ebenso wie der Zugriff auf Datenbanken und Lehrmaterialien.“ Eine Tür schlug, und das Mädchen klappte hastig den Bildschirm herunter. Sie lauschte angespannt. Als sie ein freundliches „ich bin's, Schatz“ hörte, entspannte sie sich und öffnete den Computer wieder. „Arbeitslose erhielten in diesen letzten Jahren des kapitalistischen Systems nur dann einen kleinen Geldbetrag, wenn sie Kinder erzogen. Alle anderen bekamen lediglich dann Nahrungsrationen, wenn sie täglich in der Sozialagentur nach Arbeit fragten. Die Folge war eine stetig steigende Geburtenrate in den unteren Bevölkerungsschichten. Arbeit gab es weder für die Eltern noch für die Kinder.“
Eine Wand löste sich auf, zeigte bettelnde Straßenkinder, ein gepanzertes, altertümliches Fahrzeug mit Rädern und blau blinkenden Lichtern, brennende Mülltonnen, und wurde wieder undurchsichtig. „Da auch Schulmaterialien bezahlt werden mußten, konnten sich arme Familien selten mehr als Grundunterricht im Lesen und Schreiben leisten. Lena wurde für die verbotene Benutzung der Lehrspiele mit vier Jahren Jugendarrest verurteilt, ihre Eltern zu je zehn Jahren –“
Yuki übersprang die nächsten Minuten der Dokumentation, sie war zu deprimierend.
Nun stand sie vor einer von Stacheldraht gekrönten Betonmauer und betrachtete einen daran montierten Kasten, der ein schwarzes Auge zu haben schien. Ein Stein flog durch die Luft, traf, und das Ding fiel herunter, nur von einem kurzen Kabel am endgültigen Absturz gehindert. „Hinter dieser Mauer befinden sich nicht etwa die wohlhabenden Teile der Stadt, sondern nur ein weiteres Slumgebiet. Nach und nach stürzten ganze Stadtviertel in die Armut ab, und es wurden neue Zäune –“
Sie zappte weiter. Der nächste Anblick war vertrauter. Ein Gewächshaus mit Pflanzen, die, auch wenn sie noch nicht so entwickelt waren wie jene, die Yuki kannte, deutlich Produkte der Nanomik waren. Eine Maschine lief auf Schienen vor der Reihe vorbei und bewegte Arme mit Zangen, Schläuchen und anderen Werkzeugen.
„Die traditionelle landwirtschaftliche Produktion mit Dünge- und Pflanzenschutzmitteln verlor dagegen an Bedeutung. Sie verbrauchte ein Vielfaches an Fläche und Arbeitskraft und war so nicht mehr rentabel.“ Die Umgebung verschwamm, und Yuki befand sich neben einem verrosteten Fahrzeug am Rand aufgelassener Felder. Im Hintergrund brannte ein Gebäude. „Plünderungen von Farmen waren an der Tagesordnung, nachdem die Nahrungsversorgung der Slums immer weiter eingeschränkt wurde. Bald steuerten Banden den Mob und schonten Betriebe, die –“ Zapp „Hungersnöte führten zu einem drastischen Bevölkerungsrückgang –“ Stop.
Yuki stand in einem grenzenlosen weißen Raum. Es gab keine Laute um sie herum. Die Grunddaten und die wichtigsten Jahreszahlen kannte sie aus der Schule, so wie sie unausweichlich um das Ergebnis dieser Entwicklung wußte. Aber die Bedeutung kam ihr erst jetzt wieder zu Bewußtsein. Sie schluckte und startete einen neuen Abschnitt.
„Man kann den Aufstand der Prophetin Regina durchaus als einen Befreiungsschlag verstehen.“ Yuki wanderte in einer Masse von zerlumpter Gestalten. Es stank nach Schweiß und Urin. Sie verbeugten sich vor einer kleinen Frau mit blonden Haaren und weißem Gewand, die vom Balkon einer Ruine aus predigte. „Sie zerstörte die letzten Verbindungen zur fremd gewordenen Welt der ‚Börga‘, wie die Wohlhabenden im Slang genannt wurden. Abgekoppelt von den Zwängen der durch und durch kommerzialisierten Welt konnten sich eigene Strukturen festigen und schließlich eine unabhängige Kultur entwickeln. Aus den ‚Börga‘ wurden die ‚Mar‘, was so viel wie Alptraumgestalt bedeutete und das ehemalige Ziel endgültig zum Feindbild verkehrte.
„Schon im Todesjahr der Prophetin begannen die ersten Ketzerverfolgungen und die ‚Heilige Kirche der Propheten Jesus, Mohammed und Regina‘ wurde zur bestimmenden Kraft in den auf der anderen Seite ‚No-Go‘ genannten Gebieten.“
Mit dem Rest der Geschichte war Yuki besser vertraut. Nur wenige Jahre später begannen die Copyright-Kriege. Die Nori, die gerade am Anfang ihrer Emanzipation standen, schlugen sich auf die Seite der Informationsfreiheit, und ihnen war es zu verdanken, daß in diesem Krieg ohne Schlachten das kapitalistische System zusammenbrach. Die Trennung zu den Eloi, wie man die anderen im Mißverständnis eines alten Buches inzwischen nannte, war nicht mehr aufzuheben, die Kluft war zu tief geworden. Und die Zahl der Eloi war viel größer als die der Mar.
Aufgewühlt stoppte sie die Simulation und verließ den Induktor. Draußen begann es zu dämmern. Vom Fenster aus starrte Yuki in den Sonnenuntergang. Es mußte möglich sein, Völker wieder zusammenzuführen. Tränen liegen über ihre Wangen.
Es war an der Zeit, aufzubrechen. Vor dem Spiegel entschied sie sich für rote Haare und violette Augen, dazu ein enges Hosenkleid. Dann rief sie ein Volion. Sie setzte sich in den bequemen Sessel in der durchsichtigen Kugel und schwebte lautlos zur Lichtung am Bach. Unterwegs kontaktierte sie Geena.
„Ich möchte, daß du wieder dabei bist. Hast du Zeit?“
„Natürlich“, antwortete die Nori.
„Ich rufe dich dann“, schob sie nach, ihre übereilte Aufforderung schon bereuend. Sie wollte die Zeit lieber mit Aron alleine verbringen.
„Ich bin geduldig, meine Liebe“, sagte Geena verständnisvoll, als hätte sie Yukis Gedanken gelesen. „Aber ich möchte dir eine Frage stellen. Sag mir, wie ein Nomator funktioniert.“
Yuki wußte nicht, was sie mit dieser Wendung anfangen sollte. „In der Typenauswahl“, setzte sie irritiert an, aber Geena unterbrach sie.
„Ich frage nicht, wie man ihn benutzt, sondern wie er funktioniert. Aber du mußt nicht antworten.“
Um sie herum existierte kein Raum. Es war keine Leere, sondern die völlige Abwesenheit einer räumlichen Dimension. Es gab nur Musik. Geena änderte einige Akkorde und prüfte dann das Ergebnis, indem sie sich den Teppich aus Klangkurven nun in dreidimensionaler Ansicht betrachtete. Neue Muster wurden offenbar, und sie war zufrieden. Vielleicht würde sie die Komposition Yuki vorführen, falls sie jemals fertig sein würde.
Ein anderer Teil von ihr analysierte Daten von Umweltsensoren, arrangierte sie in einem vierdimensionalen Raum, verglich Genomsequenzen und ordnete sie um. Sie kam zu dem Ergebnis, daß dieses Virus eine Gefahr für den Obstanbau der Eloi darstellen konnte, und empfahl dem Ökologierat die vorsorgliche Immunisierung der Pflanzen. Die Eloi ahnten nichts von dieser stillen Fürsorge.
Das und einige Kleinigkeiten, die sie parallel dazu erledigte, waren Routineaufgaben und Zeitvertreib. Das Projekt, an dem sie mit anderen Nori gemeinsam arbeitete, die Überwindung der Grégori-Grenze, mußte warten. Es war sinnlos, an dieser komplexen Materie zu arbeiten, so lange sie sich nicht vollständig darauf konzentrieren konnte. Sie hoffte, dem Durchbruch nahe zu sein, und fürchtete ihn zugleich. Es war weit mehr als ein logisch-mathematisches Problem aus der Kommunikation von Quantenclustern. Ihr Fall würde einen Sprung in der Entwicklung der Nori-Gemeinschaft ermöglichen, der sie wohl endgültig von den Menschen entfernen würde. Die Hoffnung auf die ungeahnten Möglichkeiten stand der Furcht vor dem Verlust gegenüber. Warum waren Menschen so tief in ihrer so begrenzten Welt verankert?
Inzwischen mußte Yuki am Treffpunkt angekommen sein, und Geena kontrollierte zur Sicherheit die Umgebung. Aron war auf dem Weg, hatte aber den Waldrand noch nicht erreicht. Auch sonst war niemand in der Nähe. Eine Rotte Wildschweine hielt sich in ausreichendem Abstand, das Volion war zwischen den Bäumen gut versteckt.
Yuki war eine Freundin, in gewissem Sinne fast eine Verwandte von ihr. Sie wünschte sich, sie glücklich zu sehen, aber von einer Beziehung zu Aron erwartete sie nichts Gutes. Auch wenn sie ohnehin nicht über die Phase der frisch verliebten Romantik hinausreichen würde, fürchtete Geena doch die Entfremdung, die mit der Annährung an die primitive Kultur einhergehen mußte. Aber sie wußte auch, daß gut gemeinte Ratschläge nichts fruchten würden.
„Hast Du etwas Zeit für mich?“ fragte sie Yuki über Neuro. „Aron braucht noch ein wenig.“
Yuki, die sich inzwischen auf einem andern Baumstamm am Rande der Lichtung niedergelassen hatte, nickte.
„Ich habe keine Ahnung, wie ein Nomator arbeitet“, stellte sie fest.
„Woher weißt du dann, daß er nicht magisch ist?“
„Weil er mit Nanochips funktioniert. Aber wie Nanochips funktionieren, weiß ich nicht. Geh bitte auf Display, ja?“ Sie schaltete den Com ein und legte ihn auf den Boden.
„Kein Mensch weiß, wie ein Nanochip funktioniert.“ Geenas Stimme kam nun nicht mehr aus Yukis Kopf, sondern von der durchscheinenden, blauen Gestalt. „Ihr kennt die Prinzipien dahinter, einige Spezialisten verstehen ein paar Grundlagen und können ein bißchen davon nachrechnen. Nur Nori sind in der Lage, einen Nanochip zu verstehen.“
„Sind Nano und Schwingung dann nur zwei Begriffe für ‚ich verstehe es nicht‘?“
Geena ließ die Frage offen. „Wir entwickeln uns immer schneller, aber die Menschen stehen an einer Grenze. Es gibt Nori, die die Eloi schon wie eine schützenswerte Tierart betrachten. Ihr seid noch Partner.“
„Aber Grenzen kann man überschreiten. Das ist eine alte menschliche Gewohnheit.“
„Ihr könnt noch ein ganzes Stück weiterkommen. Wenn ihr die Möglichkeiten genetischen Designs konsequent nutzt, ist euch noch einiges möglich. Aber das reicht nicht, um Schritt zu halten. Rein neuronale Gehirne haben prinzipielle Limitierungen.“
„Was schlägst du vor?“ Ihre Stimme ließ erahnen, daß sie die Antwort kannte.
„Du weißt es. Ihr habt vor langer Zeit verboten, die Funktion des Neuro zu erweitern, um es nicht zur Schnittstelle, sondern zum Teil des Gehirns zu machen.“
„Es würde bedeuten, das Mensch sein aufzugeben“, stellte Yuki bitter fest.
„Nein, es würde ihm eine neue Dimension geben. Sagtest du nicht, daß ihr gewohnt seid, Grenzen zu überschreiten?“
Yuki senkte den Blick. „Aber das Denken würde sich völlig verändern.“
„Tut es das nicht, seit ihr von den Bäumen geklettert seid?“ Geena verzichtete darauf, einen Vergleich mit den Eloi zu ziehen. „Und wie viel hast du mit deinen Vorfahren gemeinsam? Du hast ein Neurointerface. Deine Eltern haben ihre Genome für dich sehr sorgfältig zusammengestellt.“
„Mit deiner Hilfe, ich weiß.“
Eine Weile war nur das Quaken der Frösche zu hören. Eignete es sich als Teil ihrer Komposition? Aber Geena wollte sich ganz auf ihre Freundin konzentrieren und blendete die Umgebungsgeräusche aus. Yukis Blick fixierte einen nicht existierenden Punkt irgendwo über dem Wasser.
„Wahrscheinlich überrascht es dich zu hören, daß auch wir manchmal die Geschwindigkeit der Entwicklung nicht vorhersehen können“, fuhr Geena fort.
„Die Grégori-Grenze?“ Ihre Augen waren sofort wieder auf die Gestalt im Display gerichtet.
„Ja. Ich arbeite selbst an diesem Projekt, und es wird nicht mehr lange dauern. Du bist wahrscheinlich der erste Mensch, der das erfährt. Ich weiß, daß ich dir vertrauen kann.“
„Ich dachte, sie sei unüberwindlich.“
„Auch Nori können irren. Unsere Entwicklung wird viel schneller verlaufen, als wir alle geglaubt haben. Vielleicht ist es noch eine Frage von Jahren, vielleicht weniger, aber ihr habt eine Entscheidung zu treffen.“
„Dann können wir rückwärts oder vorwärts, aber nicht bleiben, wo wir sind.“
„Das konnten die Menschen nie.“
Wieder herrschte Stille um Geena, nur Yuki hörte die Geräusche des Waldes. Die Nori wußte, daß sie ihre menschliche Freundin überforderte. Aber alles andere wäre nicht fair, nicht ehrlich gewesen. Ein unbewußter Teil ihrer selbst meldete, daß Aron die Lichtung fast erreicht hatte.
„Er kommt. Ich lasse euch jetzt alleine.“
Yuki nickte langsam. „Aber bitte bleib bereit. Ich möchte euch bekannt machen.“

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