- Kinder
- Prinzessin Rosa
- Opa Windolin: Die Reise zur Dracheninsel
- Opa Windolin: Die Suche nach der verlorenen Zeit
- Opa Windolin: Die Reise zum Fünfuhrwald
- Opa Windolin: Auf der Suche nach dem UN-Geheuer
Opa Windolins Reise zum Fünfuhrwald
für Svenja Rosa
Auf dem Tisch stand frischer, noch dampfender Schokoladenkuchen. Anna Lila hätte zu gerne die Schokoladenstückchen herausgepickt, so ungeduldig war sie. Aber Opa Windolin klapperte in der Küche schon mit den Tassen, er kochte Tee für sich und Kakao für Anna. Kuchen und Kakao, das gehörte einfach zusammen, und so wartete das Mädchen geduldig ab.
„Aaaah!“ schrie Opa. „Nein!“
Was war jetzt passiert? Sie eilte in die Küche, um ihrem Großvater zu helfen. Aber eigentlich sah es gar nicht so schrecklich aus, er hielt nur eine Dose in der Hand und starrte mit entsetztem Blick hinein.
„Der Tee!“ sagte er erschrocken. „Der Tee ist alle!“
Das war wirklich schlimm. Eine Tasse Tee zum Kuchen war für Windolin mindestens so wichtig wie für sie der Kakao. Wie sollten sie jetzt gemütlich den Schokoladenkuchen essen? Es war Sonntag, und alle Läden waren zu.
Opa stellte die Teedose ab und legte den Zeigefinger vor den Mund. Er runzelte die Stirn und dachte nach. „Herbert!“ rief er dann. „Jetzt kann uns nur noch Herbert helfen! Komm mit, wir müssen fliegen!“
Anna packte den Kuchen ein, während Großvater in die Scheune ging, um seine Flügel zu holen. Bis in die Wohnung hörte man ihn poltern, den wie immer hatte der sie längst unter Bergen von neuem Gerümpel vergraben. Gerümpel? Nein, kostbare Sammlungsstücke, behauptete Opa. Dann schien er sie endlich gefunden zu haben.
„Anna Lila, bist du fertig?“ hörte sie ihn rufen.
„Ja!“ antwortete sie und ging mit dem Kuchen nach draußen. Windolin stand schon auf der Wiese, mit Fliegermütze und -brille. Sie half ihm, die Flügel anzuschnallen und kletterte auf seinen Rücken.
„Und jetzt gut festhalten!“ Opa nahm Anlauf, rannte über die Wiese und schlug mit den Flügeln. Er machte einen weiten Hüpfer, aber er war noch nicht schnell genug. Der Gartenzaun kam immer näher. Kurz bevor sie ihn erreicht hatten, hoben sie endlich ab. Die Welt unter ihnen, die Häuser und Bäume und Menschen wurden immer kleiner, je höher sie stiegen. Anna Lila liebte es, so mit Opa zu fliegen.
„Wohin wollen wir eigentlich“, fragte sie, als sie die ersten Wolken erreicht hatten.
„Zur Insel Borneo, in den Fünfuhrwald“, sagte Windolin.
„Fünfuhrwald?“ Das kleine Mädchen lachte laut. „Aber Opa, das bringst du doch durcheinander. Der Urwald hat doch nichts mit der Uhrzeit zu tun!“
„Doch, meine Liebe, dieser schon. Der Fünfuhrwald ist zwar ein richtiger Urwald, aber außerdem ist es dort immer fünf Uhr nachmittags. Und daran ist mein alter Freund Herbert George schuld.
„Weißt du, Herbert ist ein ziemlich guter Schriftsteller, aber ein lausig schlechter Bastler. Und als er versucht hat, sich eine Uhr zu bauen, ist eine Zeitmaschine dabei herausgekommen. Wir haben nie herausgefunden, was er da eigentlich falsch gemacht hat, aber statt sie wie eine ordentliche Uhr nach der Zeit zu richten, machte sie es genau umgekehrt. Wenn man an den Zeigern drehte, änderte sich die Zeit.“
Anna Lila konnte es kaum glauben, aber schließlich flunkerte Opa ja nicht. Gespannt hörte sie zu, wie er weitererzählte.
„Herbert hat dann einen bequemen Sessel genommen, die Uhr dahinter und ein Steuerpult davor gebaut, und eine besonders große Uhrfeder, damit man sie nicht so oft aufziehen mußte. Fertig war seine Zeitmaschine, ich habe selbst gesehen, wie er damit verschwunden ist. Und als er zurück war, hat er ein Buch über seine Abenteuer geschrieben, mit dem er berühmt geworden ist.
„Aber eines Tages ist sie kaputtgegangen. Er war im Urwald von Borneo, und die Maschine ist einfach stehengeblieben, um fünf Uhr nachmittags, und seitdem ist um sie herum auch die Zeit stehengeblieben. Herbert sitzt noch heute da fest und versucht, sie zu reparieren. So ist der Fünfuhrwald entstanden.
„Lustig“, sagte Anna. „Aber warum fliegen wir jetzt da hin? Wir brauchen doch Tee.“ Die beiden waren schon weit geflogen, und unter ihnen lag das Meer. Wie sollten sie hier Tee bekommen und ihren Kuchen essen?
„Das ist ganz einfach“, erklärte Windolin. „Herbert ist nämlich Engländer, und weißt du, was Engländer um fünf Uhr nachmittags machen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Tea time. Das heißt Teezeit, und da trinken sie Tee.“
Opa mußte nur einmal tiefer gehen, um den Kapitän eines Schiffes nach dem Weg zu fragen. „Nach Borneo geht’s da lang“, antwortete der und zeigte nach Osten. „Und grüß Herbert von mir!“
Tatsächlich waren sie bald am Ziel. Borneo war eine ziemlich große Insel, viel größer als Anna sie sich vorgestellt hatte. Erst gab es da unten nur Dörfer und Felder, aber dann, im inneren der Insel, waren riesige Wälder, größer als alle, die sie bisher gesehen hatte. Die Bäume mußten unheimlich groß sein, und überall gab es Flüsse, die in ganz verrückten Schleifenmustern flossen. Opa Windolin folgte einem dieser Flüsse, und endlich fanden sie eine Lichtung im Wald. Auf der Lichtung stand eine einzelne Hütte, und vor der Hütte saß ein Mann unter einem Sonnenschirm und hielt eine dampfende Tasse in der Hand. Sie landeten mitten auf der Wiese.
„Windolin! Was für eine Überraschung, du alter Räuber!“ Der Mann kam ihnen winkend entgegen gelaufen.
„Anna Lila, das ist Herbert, Herbert, das ist meine Enkeltochter Anna Lila“, stellte Opa sie vor und verhedderte sich mit seinen Flügeln, als er auf sie zeigen wollte. Anna half ihm, sie auszuziehen.
„Ihr kommt genau richtig“, sagte Herbert. „Es ist gerade fünf Uhr, und der Tee ist schon fertig. Ihr habt nicht zufällig einen Kuchen dabei?“
Er holte zwei Stühle aus der Hütte, und sie setzten sich an den Tisch. „Du willst bestimmt einen heißen Tee, Windo“, stellte er fest und fragte dann Anna Lila: „Und die Dame? Möchtest du einen Kakao?“
Sie nickte.
„Orang!“ rief Herbert. „Zwei Tee und einen Kakao!“
Ein großer roter Affe mit zottigem Fell und langen Armen kam aus der Hütte. Er trug eine Kanne und zwei Tassen.
„Darf ich vorstellen? Orang der Utan. Ich habe ihm das Teekochen beigebracht.“
„Uhh, uuh uh?“ sagte Orang und schüttelte den Kopf. „Uhh!“
„Ganz einfach“, sagte Herbert. Er ging zum Waldrand und kam mit einer merkwürdigen Frucht wieder. „Das sind Kakaobohnen“, erklärte er Orang. „Daraus macht man Kakao.“
„Uh!“ antwortete Orang der Utan, nahm die Kakaofrucht und ging zur Hütte zurück. Es dauerte nicht lange und er kam mit einer dampfenden Kanne Kakao wieder. Sie konnten anfangen.
Der Kakao war köstlich, und der Kuchen schmeckte einfach großartig. Auch Opa war zufrieden, der Tee war schließlich fast genauso frisch wie der Kakao. Er begann, sich mit Herbert über die Zeitmaschine zu unterhalten.
„Was hast du so gemacht, in all den Jahren hier im Wald?“ fragte er.
„Oh, repariert“, antwortete Herbert. „Aber vor allem Tee getrunken, denn schließlich ist es gerade fünf Uhr.“
„Vielleicht solltest du doch den Technischen Hilfszwerg rufen“, schlug Windolin vor, aber Herbert schüttelte den Kopf.
„Was versteht der schon von Zeitmaschinen, nein nein, das kann nur ich richtig machen.“
„Aber du versuchst es doch schon seit fünfzig Jahren.“
„Zeitmaschinen brauchen eben ein wenig Zeit.“
Anna Lila fand die Erwachsenen langweilig, also trank sie ihren Kakao aus, nahm sich noch ein Stück Kuchen mit und machte sich auf, um den Urwald zu erkunden. Vielleicht gab es hier ja sogar Tiger.
Doch Anna fand keinen Tiger, so weit traute sie sich dann doch nicht in den dichten Wald. Statt dessen entdeckte sie hinter der Hütte Herberts Zeitmaschine. Sie sah wirklich beeindruckend aus. Der Sessel war aus rotem Samt und sah unheimlich bequem aus. Das Gestell drumherum war aus glänzendem Messing, und überall gab es Zahnräder und Uhrpendel und Zifferblätter. Zu gerne hätte sie sich einmal hereingesetzt.
Ob sie es wagen konnte? Schließlich war die Maschine ja ohnehin kaputt. Passieren konnte also nichts. Anna Lila nahm den Schraubenzieher vom Sitz und kletterte hinein. Da vorne, auf dem Steuerpult vor ihr, war ein Zifferblatt, das fünf Uhr anzeigte. Sie wackelte am Zeiger, aber tatsächlich, er bewegte sich nicht.
Sie stieg wieder aus und ging um die Zeitmaschine herum. Dahinter lag ein Schlüssel zum Aufziehen. Ganz schnell hatte sie auch das Loch gefunden, in das man ihn stecken konnte, und sie begann zu drehen. Die große Feder spannte sich, und das erste Zahnrad begann sich zu bewegen. Dann fing die Maschine an zu ticken. Anna ließ ganz erschrocken los. Hoffentlich hatte sie nichts falsch gemacht! Lieber wieder zurück in den Urwald, Tiger suchen.
Zwar fand sie nur eine kleine gestreifte Katze, aber dafür tolle bunte Blüten, riesige Schmetterlinge und unheimlich hohe Bäume. Auf den großen Blättern kletterten Frösche, prächtige Vögel hüpften über die Zweige, es gab hübsche Schlangen, und einmal sah sie sogar zwei Affen, die hoch über ihr von Ast zu Ast sprangen. Wirklich toll, so ein Fünfuhrwald!
Aber dann begann es, dunkel zu werden. ‘Komisch’, überlegte sie, ‘ das muß ich Opa fragen.’ Sie ging zurück zur Lichtung, wo Windolin und Herbert immer noch Tee tranken. Der Kuchen war bis zum letzten Krümel aufgegessen. Orang der Utan kochte gerade neues Wasser.
„Opa.“ Anna Lila zupfte an seinem Ärmel, so vertieft war er in das Gespräch mit Herbert. „Opa, warum wird es eigentlich dunkel, wenn es hier immer fünf Uhr ist?“
„Nein“, antwortete Herbert, „hier wird es nie dunkel, seit die Maschine stehengeblieben ist.“
„Aber es wird doch gerade dunkel.“
Herbert blickte nach oben und suchte die Sonne. Sie verschwand gerade hinter den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung. Er ließ vor Schreck seine Tasse fallen. „Windolin, sie doch, die Sonne geht unter!“
Die beiden sprangen auf und liefen zur Zeitmaschine. Sie tickte noch immer.
„Sie läuft! Sie funktioniert wieder!“ Herbert war ganz glücklich und gerührt.
Opa Windolin schüttelte ihm die Hand. „Ich gratuliere, Herbert. Du hast es endlich geschafft!“
„Ich weiß gar nicht - äh - ich habe gar nicht…“ Er fand keine Worte mehr.
Anna Lila dagegen kam nur ganz langsam und mit schlechtem Gewissen nach. Sie hatte doch wirklich nichts kaputtmachen wollen.
„Ich habe es bestimmt nicht gemacht“, sagte sie kleinlaut. „Ich habe sie nur aufziehen wollen.“
„AUFZIEHEN?“ riefen Opa und Herbert gleichzeitig. Dann sah Opa seinen Freund scharf an, und der bekam ganz rote Ohren.
„Du hast sie noch nie aufgezogen, stimmt’s?“ frage Windolin.
Herbert nickte. „Das wollte ich als nächstes probieren. Echt!“
Großvater schüttelte den Kopf. „Er hat sie aufzuziehen vergessen. Ich glaube es einfach nicht. Er hat fünfzig Jahre lang vergessen, sie aufzuziehen.“ Dann drehte er sich zu seiner Enkeltochter um. „Gut gemacht, Anna! Du hast sie repariert.“
Die beiden starteten, ehe es ganz dunkel wurde. Herbert winkte ganz glücklich, als sie noch eine Runde über der Lichtung drehten.
„Ich habe Hunger“, sagte Opa. „Ich glaube, wir fliegen jetzt zu meinem alten Freund, dem Sultan von Brunei. Es ist genau die richtige Zeit zum Abendessen.“
Anna Lila hingegen sah ganz traurig zurück. „Wirklich schade, Opa. Ich habe die Zeitmaschine repariert und jetzt ist der Fünfuhrwald kaputt.“

This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 License .
Sie dürfen diesen Text privat herunterladen, ausdrucken, weitergeben und weiterverbreiten, so lange sie ihn nicht verändern und die Urheber- und Lizenzangabe beibehalten. Sollten Sie den Text an anderer Stelle veröffentlichen, geben sie mir bitte Bescheid. Veränderungen des Textes sind untersagt.
Jede kommerzielle Nutzung bedarf der schriftlichen Zustimmung des Urhebers Dennis Merbach.