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Opa Windolins Suche nach der verlorenen Zeit

Es war Freitag, die Schule war zu Ende und die Ferien hatten begonnen. Nur eine Woche Herbstferien zwar, aber immerhin. Rosa war sofort auf ihr Fahrrad gestiegen und hinaus zu Großvater gefahren, der in einem Bauernhaus vor der Stadt wohnte. Sie hatten nämlich eine Hausaufgabe bekommen! Rosa mußte einen Aufsatz über die Zeit schreiben.

Opa Windolin hörte Rosa zu und zwirbelte dabei seinen grauen Schnurrbart. Er war groß und rundlich, er trug eine runde Brille und hatte eine dicke Nase. Wie üblich hatte er kurze Hosen an und einen blau und weiß geringelten Pullover. Er schaute immer freundlich, und er war bestimmt der älteste und der klügste Großvater der Welt. Auf jeden Fall war er der einzige, der fliegen konnte.

„Du willst also wissen, was Zeit ist“, sagte er bedächtig. „Das Wesen der Zeit.“

Rosa nickte. Sie hatte sofort gewußte, daß bei so einer verzwickten Sache nur noch Opa Windolin helfen konnte.

„Also“, begann Großvater und erhob sich aus seinem großen Ohrensessel. „Also, das ist wirklich kompliziert.“ Er kratzte sich am Ohr. „Am besten, wir fangen bei der Uhr an.“

„Nein, Opa, das meine ich doch nicht.“ Rosa schüttelte ungeduldig den Kopf. „Uhren messen doch nur die Zeit, sie machen sie doch nicht.“

Windolin sah seine Enkeltochter überrascht an. „Stimmt.“ Er nickte nachdenklich. „Das hat mein Freund Albert(1) auch immer gesagt. Aber wenn ich mich nur erinnern könnte, was er mir dann erklärt hat.“

„Hat Albert es denn gewußt?“

„Ziemlich genau jedenfalls“, antwortete Opa Windolin. „Er hat sogar herausgefunden, daß die Zeit im Weltraum nicht überall gleich abläuft. Aber betrifft uns Menschen nicht. Und er hat gesagt, daß...“ Großvater stockte. „Nein, ich weiß es nicht mehr. Ich denke, nicht einmal er hat gewußt, was die Zeit selbst ist.“

Rosa ließ ihre Schultern hängen. „Dann kannst du mir diesmal nicht helfen?“

Opa Windolin sah plötzlich traurig aus. “Nein, wenn Albert es nicht wußte, kann es niemand. Aber ist es wirklich das, was eure Lehrerin gemeint hat?“ Sein Gesicht hellte sich auf. Er lächelte sogar wieder. „Sicher sollt ihr nur schreiben, was ihr über Zeit denkt. Komm mit, jetzt zeige ich dir die tollste Uhr, die du je gesehen hast!“

Opa Windolin führte Rosa in seine Scheune. Dort bewahrte er all die Dinge auf, die er auf seinen vielen Reisen gesammelt hatte. Es gab da ein komplettes Saurierskelett, einen Schneeball vom Nordpol, sogar ein echtes Horn von einem Einhorn. Großvater war schließlich schon fast überall gewesen. Und das beste von allem waren Opa Windolins Flügel!

„Und hier muß sie sein“, sagte Opa, „die Uhr, die ich damals in Hongkong von –“ Er sprach nicht weiter. Rosas Großvater stand vor einem Regal voller Uhren, Kuckucksuhren, Wasseruhren, Sanduhren und Quarzuhren. Er schob sie alle beiseite, wühlte und suchte, dann sah er seine Enkelin ratlos an. „Aber sie muß hier sein! Hier sind alle meine Uhren!“

Doch so sehr sie sich auch bemühten, sie konnten die Uhr aus Hongkong in der ganzen Scheune nicht finden. Opa Windolin war untröstlich.

„Ein alter Chinese hat sie mir angeboten, damals, als ich noch seekranker Matrose auf einem Segelschiff war“, berichtete Windolin. „Ich habe sie gekauft, und dann habe ich sie in mein Hotelzimmer genommen, auf den Nachttisch gestellt, und als ich am nächsten Morgen meine Sachen gepackt habe und...“ Großvater machte eine nachdenkliche Pause. „Beim Klabautermann“, fuhr er dann fort, „na sowas, ich habe sie vergessen! Sie steht noch immer auf dem Nachttisch!“

Der Entschluß war schnell gefallen. Sie mußten die Uhr holen! Wie gut, daß Opa seine Flügel hatte. Sie steckten ganz hinten in der Scheune, so daß Rosa und Windolin sogar den ausgestopften Drachen aus dem Weg räumen mußten. Doch dann lagen sie endlich vor ihnen: Opa Windolins Flügel!

Sie waren aus Holz und dünnem Pergament gefertigt, und Opa hatte sie vor langer Zeit in Ulm von einem Schneider erhalten. Ein wenig erinnerten sie an riesige Fledermausflügel. Man konnte sie an die Arme schnallen, und mit ihnen konnte Opa Windolin tatsächlich fliegen wie ein Vogel! Es war nicht das erste Mal, daß Rosa so mit ihrem Großvater auf Reisen ging. Gemeinsam trugen sie die Flügel ins Freie, und Rosa half Windolin, sie anzulegen. Furchtlos erkletterte sie seine Schultern, hielt sich gut fest, dann nahm Opa auf der Wiese vor der Scheune Anlauf und startete.

Sie flogen nach Hongkong!

Der Weg führte nach Osten, und er war sehr weit. Hongkong liegt bekanntlich in China, weit hinter Rußland und Indien, dort, wo hinter den endlosen Wüsten und Bergen wieder das Meer anfängt. Sie flogen über weite Felder und öde Steppen, über Felsen und Gebirge. Es wurde Nacht und wieder Tag, ehe Opa Windolin endlich zur Landung ansetzte. Hongkong!

Die Stadt lag auf mehren Inseln vor der Mündung eines Flusses, und das Wasser war voll mit Schiffen, mit kleinen, alten Segelbooten und mit riesigen, modernen Motorschiffen. Am Ufer standen die Häuser dicht an dicht gedrängt, niedrig und mit engen Gassen. Dahinter ragten Wolkenkratzer in den Himmel. Die Straßen waren voller Autos und voller Rikschas.

„Hier hat sich viel verändert!“ stellte Opa Windolin erstaunt fest. Sie kreisten noch immer über der Stadt. „Dabei ist es kaum hundert Jahre her, daß ich zuletzt hier war.“

Rosa war indessen schläfrig geworden. Aber sie waren ja auch eine Nacht lang geflogen, ein Nacht, so seltsam schnell gekommen und die so rasch wieder vergangen war(2). Nun war längst Mittagszeit, dabei fühlte sich Rosa, als müsse sie nun endlich zu Bett gehen. Sicher lag es daran, daß sie auf dem Flug kaum geschlafen hatte.

Sie landeten auf einem Berg über der Stadt, versteckten die Flügel in einem dichten Gebüsch und sahen sich um.

„Jetzt müssen wir nur noch das Gasthaus finden“, sagte Opa Windolin und gähnte. „Es kann gar nicht so schwer sein, es lag nämlich direkt am Hafen.“ Er sah sich um. Dort unter ihnen erstreckte sich der Hafen endlos nach allen Seiten, verschwand hinter der sanften Biegung des Ufers, um auf der anderen Seite weiterzulaufen. Überall lagen Schiffe am Ufer, manche mit Schornstein und andere mit Segeln, diese groß und jene klein. Die Inseln schienen nur aus Hafen zu bestehen. „Na gut, wir brauchen nur ein wenig Zeit“, seufzte Opa. „Früher war das alles viel kleiner.“ Die beiden machten sich auf den Weg und stiegen den steilen Pfad zur Stadt hinunter.

Am der Hafenpromenade angekommen, war für das Mädchen alles nur noch unübersichtlicher. Dichte Menschenmassen schoben sich die Straße entlang und nahmen ihr die Sicht. Es war laut, voller unverständlicher Stimmen, hier pries ein Fischhändler seine Waren an, dort quietschten die Bremsen eines Autos. Großvater hatte es da leichter, er überragte die kleinen Chinesen um zwei Köpfe. Rosa hielt sich an seinem Hemdzipfel fest, um nicht verloren zu gehen. Doch schließlich nahm Opa Windolin seine Enkelin einfach auf die Schultern.

„Ein Gasthaus, da ist es!“ rief Rosa begeistert. Sie hatte ein Haus entdeckt, über dessen Eingang das Schild ‚Hotel‘ prangte. Doch noch bevor Großvater den Kopf schütteln konnte, sah sie, daß auch daneben ein eben solches Zeichen hing, und noch eines und noch eines. Enttäuscht ließ sie den Kopf hängen.

„Nein“, sagte Opa und übersetzte Rosa nun auch die chinesischen Zeichen auf den Schildern. Er konnte nämlich fast alle Sprachen. „Das ist das ‚Gasthaus zu den drei Drachen‘, und dieses heißt ‚Zur roten Dschunke‘. Die suchen wir nicht.“

„Und welches suchen wir?“

„Es hieß ‚Zur sehr alten Schildkröte‘“, antwortete Windolin nach kurzem Überlegen. „Es war das älteste Gasthaus in der Stadt.“

„Dann fragen wir doch einfach danach.“

„Eine gute Idee!“ Opa sprach einen bärtigen Chinesen, der gemächlich an ihnen vorbeiging. Für Rosa, die kein Wort verstand, klang es sehr lustig, aber der alte Mann begriff und antwortete lange und wild gestikulierend.

„Und was hat er gesagt?“ wollte Rosa wissen, als er endlich fertig war.

Opa seufzte. „Er weiß es nicht.“

So ging es ihnen wieder und wieder. Niemand konnte ihnen weiterhelfen. Niemand kannte das gesuchte Hotel. Sie gingen die Uferstraße entlang, hielten Ausschau und fragten vergebens. Es wurde Abend, und Opa Windolin mietete ein Zimmer in einer kleinen Herberge.

„Es wird Zeit zum Schlafen gehen, ich bin Müde vom Fliegen“, erklärte er.

Doch als die beiden endlich im Bett lagen, konnten sie nicht mehr einschlafen, und als sie am nächsten Tag erwachten, schien die Mittagssonne ins Fenster. Müde standen sie auf, gähnend nahmen sie ihr Frühstück, und schon wieder schläfrig setzten sie ihre Suche fort. Rosa schlief sogar auf Opas Schultern ein, bis dieser selbst einnickte. Er hatte sich gerade auf einen Pfosten am Ufer gesetzt, und beinahe währen sie ins Wasser gefallen.

Sie fanden weder das Hotel, noch die Uhr, und als sie am Abend ein Zimmer gemietet hatten, konnten sie wieder nicht schlafen. Rosa verstand die Welt nicht mehr. Es dauerte drei volle Tage, ehe Rosa und Opa Windolin am Morgen wach wurden und in der Nacht müde. Erst dann schafften sie es, wirklich mit Kraft und Lust zu suchen. Jetzt endlich machte die fremde Stadt Rosa Spaß, schmeckte ihr das neue Essen.

Nur ihr eigentliches Ziel konnten sie nirgends entdecken. Vom Gasthaus ‚Zur sehr alten Schildkröte‘ hatte noch niemand etwas gehört. Sie suchten bis zum Freitag, sie waren um alle Inseln Hongkongs gelaufen und sich wirklich alle Mühe gegeben.

„Jetzt geben wir auf“, entschied Opa Windolin schließlich. „Die Uhr ist verloren, da kann man nichts machen.“

Sie beschlossen, noch einmal richtig chinesisch essen zu gehen und am nächsten Tag bei Licht zu fliegen. Die beiden sahen sich um, und nur ein paar Schritte von ihnen war ein modernes Hotel, mit Marmorfassade, großen Fenstern und Neonreklame. Ohne auf den Namen zu achten, traten sie ein.

„Willkommen im Gasthaus ‚Zur sehr, sehr alten, moosbedeckten Schildkröte‘“, sagte der Portier und verneigte sich tief.

Opa und Rosa sahen ihn verwundert an. „Warum heißt es so? Hier ist doch alles ganz neu?“ fragte Windolin.

„Oh, dies ist ein sehr altes Haus“, erwiderte der Portier. „Früher hieß es ‚Zur alten Schildkröte‘, aber wir haben es renoviert, und deswegen haben wir ihm auch einen neuen Namen gegeben.“

Windolin stand vor Überraschung der Mund offen. Er sagte gar nichts mehr.

Auch Rosa stutzte. „Aber das ist doch unsinnig“, stellte sie trotzig fest. „Jetzt ist es doch neu.“

„Oh nein, werte Herrschaften“, widersprach der Chinese. „Die Zeit ist ein ewiger Kreis. Tag folgt auf Tag, Jahr auf Jahr. Das neue folgt auf das alte und wird selber alt. Wenn die sehr alte Schildkröte sehr, sehr alt wird, wächst das Moos auf ihrem Panzer, aber das Moos ist neu. Und wenn die Schildkröte noch älter wird und stirbt, dann wird eine junge Schildkröte kommen und das alte Moos von ihrem leeren Panzer fressen, und die junge Schildkröte wird alt werden, und...“

Opa Windolin unterbrach ihn. „Sagten sie ‚Zur sehr alten Schildkröte‘?“

Der Portier nickte.

„Dann nehmen wir Zimmer 12 b!“ sagte Großvater bestimmt. „Genau wie damals.“

Und tatsächlich, als Rosa und Windolin das Zimmer 12b betraten, stand dort auf dem Nachttisch neben dem neuen Bett eine alte Uhr!

„Da ist sie ja“, stellte Opa zufrieden fest. „Und sie funktioniert noch immer.“

Es war wirklich eine besondere Uhr. Sie hatte viele Zeiger, und sie zeigte nicht nur die Zeit, sondern auch den Mondstand und die Gezeiten, den Lauf der Sterne und der Tage, Monate und Jahre. Der Chinese hatte tatsächlich recht, bemerkte Rosa überrascht. Es waren ja alles Kreise, und alles wiederholte sich, wenn die Zeiger sich unmerklich langsam drehten.

Am nächsten Morgen nahmen sie Opas Uhr mit. Sie kletterten auf den Berg über der Stadt und fanden die Flügel unbeschädigt wieder. Wieder half Rosa ihrem Großvater, sie anzulegen, dann nahm sie auf seinem Rücken Platz und hielt die Uhr gut fest. Sie starteten, flogen höher und höher, und Hongkong verschwand aus ihren Augen.

Wieder schwebten sie über die Wüsten und die Berge hinweg, nur in umgekehrter Richtung. Doch während auf dem Rückweg Tag und Nacht so schnell vergangen waren, schien die Sonne nun nicht untergehen zu wollen. Rosa wurde müde, und als sie noch nachdachte, warum sie zur Mittagszeit schon so erschöpft war, schlief sie einfach ein.

Rosa erwachte erst, als Opa zur Landung ansetzte. Unter sich sah sie sein Bauernhaus im Licht des Sonnenuntergangs. Seltsam, müßte es jetzt nicht längst mitten in der Nacht sein?

Sie landeten vor der Wiese auf Haus und trugen die Flügel in die Scheune. Dann legten sie sich ins Bett und schliefen sofort ein.

Als Rosa aufwachte, war rings um sie alles Dunkel. Hellwach stand sie auf und schaltete das Licht an. Sie fand Opa in der Küche, auch er war schon munter. Er saß vor seiner wiedergefundenen Uhr und starrte auf das Zifferblatt. Die Uhr zeigte auf acht Uhr morgens, doch draußen herrschte tiefe Nacht.

„Hier stimmt etwas nicht“, sagte Opa. „Die Uhr geht noch, aber der Tag geht nach!“

Ratlos saßen die beiden am Küchentisch und aßen ihr Frühstück. Sie warteten und wunderten sich. Erst als es längst Mittag hätte sein müssen, begann es vor dem Fenster zu dämmern. Die Sonne ging auf. Großvater Windolin, der schon das Mittagessen zubereitete, sah auf den Kalender.

„Dort steht: ‚Sonnenaufgang um 6 Uhr 50‘“, stellte er fest. „Aber auf der Uhr ist es 13 Uhr 50, wir haben ganz eindeutig Mittag. Der Tag geht also genau sieben Stunden nach. Sehr seltsam. Wohin ist die Zeit verschwunden?“

„Hat sie jemand gestohlen?“ fragte Rosa entsetzt.

„Das müssen wir in Erwägung ziehen“, sagte Opa mit finsterer Miene. „Wie mein alter Freund Sherlock(3) zu sagen pflegte, - äh -, also, wie er sagte, mh. Ich weiß es nicht mehr, aber es ist ja auch schon so lange her. Aber mein Freund Hercule(4) sagte damals: ‚benutze deine grauen Zellen, Windolin!‘“

„Und was heißt das?“ wollte Rosa wissen.

„Wir müssen nachdenken. Wer könnte ein Interesse daran haben, uns die Zeit zu stehlen? Und wie?“

Düsteres Schweigen breitete sich in Opas Küche aus, während die Sonne immer höher stieg. Es wurde Mittag, und Rosa und ihr Großvater begannen, müde zu werden. Die Uhr zeigte auf sieben Uhr abends.

„Ich glaube, das geht gar nicht“, sagte Rosa und gähnte. „Ich glaube, man kann gar keine Zeit stehlen. Das ist nur eine Redensart, genau wie man sie nicht totschlagen kann.“

Opa Windolin blickte auf.

„Die Tage und Nächte, die entstehen doch, weil die Erde sich dreht, oder?“

Großvater nickte bestätigend. „Ja, ich erinnere mich. Mein alter Freund Galileo(5) hat es mir damals noch selbst erklärt. Die Sonne scheint immer von einer Seite, aber die Erde ist rund und dreht sich. Deshalb wird es Tag und Nacht, während wir uns unter der Sonne weiterdrehen. Und wenn es bei uns hell ist, ist es auf der anderen Seite dunkel. Wo liegt Hongkong?“

Sie gingen in die Bibliothek, wo der große Globus stand. Eine Weile mußten sie suchen, dann wurde Rosa fündig. „Es liegt fast auf der anderen Seite!“

„Das heißt also“, folgerte Opa Windolin, „wenn dort schon die Sonne scheint, ist sie hier vielleicht noch gar nicht aufgegangen. Wie viele Stunden Unterschied werden das wohl sein?“

„Aber das ist doch ganz klar, Opa“, bemerkte Rosa. „genau sieben Stunden! Unser Rätsel ist gelöst, die Uhr zeigt die Hongkong-Zeit.“

„Stimmt!“ Großvater grinste glücklich. „Wir müssen sie also nur umstellen, dann ist wieder alles in Ordnung.“

Doch Rosa war noch nicht zufrieden. „Aber warum sind wir dann müde?“ fragte sie gähnend. „Für uns ist doch Mittag, oder? Wir sind schließlich keine Uhren.“

„Nein, bestimmt nicht!“ sagte Opa. Sein Grinsen verschwand so schnell, wie es gekommen war. „Also doch ein Zeitdieb? Vielleicht sollten wir doch die Polizei rufen.“

„Aber nein!“ Was wäre, wenn wir doch so etwas wie Uhren sind?“ Seine Enkeltochter ließ nicht locker. „Sagst du nicht immer, daß du jeden Morgen um die gleiche Zeit aufwachst, als ob du einen Wecker verschluckt hättest?“

Opa lachte. „Aber das ist doch nur bildlich gemeint.“

„Na und? Vielleicht haben wir ja trotzdem so etwas ähnliches wie eine Uhr in uns. Und die steht noch auf Hongkong-Zeit, bis wir sie umstellen.“

Windolin runzelte die Stirn. „Das könnte sein. Und sie wird Stück für Stück neu gestellt, wenn wir in eine andere Zeitzone reisen, aber das dauert ein paar Tage. Ja, genau das ist uns doch in Hongkong passiert, weißt du noch, wie müde wir waren?“

Rosa nickte. „Genau das muß es sein. Und jetzt ticken wir schon wieder nicht mehr richtig, Opa!“ Sie schaute auf die noch immer falsch gehende Uhr. „Ist fliegen dann so etwas wie Zeitreisen?"

„Nein", lachte Opa. „Zeitreisen, das geht nicht. Schon damals, als ich mit meinem alten Freund Herbert George(6) versucht habe, eine Zeitmaschine zu bauen, ist nur eine rückwärts laufende Uhr dabei herausgekommen. Aber Herbert hat dann eine tolle Geschichte darüber geschrieben, wie es wäre, wenn man durch die Zeit reisen könnte.“

„Schade.“ Sie stellte die Uhr auf die richtige Zeit. „Aber jetzt weiß ich wenigsten, was ich für den Aufsatz schreiben soll: ‚Die Geschichte von der verlorenen Zeit!‘“

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