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Prinzessin Rosa

„…und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute“, beendete die Königin die Gutenachtgeschichte für die kleine Prinzessin Rosa.

„Schön!“, sagte die Prinzessin. “Und wenn ich groß bin, will ich auch Hexe werden!“

Die Königin bekam einen großen Schreck. „Prinzessinnen können keine Hexen werden“, erklärte sie der Prinzessin Rosa.

Als Rosa eine große Prinzessin war, wollte sie immer noch Hexe werden. Doch die Lehrer in der Schule lehrten sie nur Rechnen, Lesen, Schreiben und Latein. Rosa mochte das gar nicht. Aber Zaubern, das konnte ihr keiner der Lehrer beibringen.

„Hexen gibt es nicht, weil Zaubern unmöglich ist. Also kann es keine Hexen geben, und folglich keine Zauberei“, erklärte ihr der alte Mathematiklehrer.

„Eines Tages werde ich dich wegzaubern“, sagte Rosa. „Dann wirst du schon sehen.“

Der Mathematiklehrer gab ihr eine Strafarbeit auf.

„Weißt du nicht, daß es Hexen nur in dunklen Wäldern hinter sieben Bergen gibt, wo Drachen hausen, Wölfe heulen und Räuber leben?“ erklärte ihr schließlich der Geschichtslehrer.

Damit wollte er Rosa angst machen. Aber Rosa hatte schon immer Drachen, Wölfe und Räuber sehen wollen. Die hatten ihr in den Märchen, die die Königin ihr erzählt hatte, immer am besten gefallen. Fast so gut wie Hexen. `In die dunklen Wälder hinter den sieben Bergen, da muß ich hin`, sagte sich Rosa und nahm den Eisenbahnfahrplan. Aber kein Zug fuhr hinter die sieben Berge. Und auch kein Bus. Also setzte sie sich eines Tages auf ihr Fahrrad und fuhr in die weite Welt hinaus. Aus der nächsten Stadt schickte sie dem König und der Königin noch eine Postkarte. Dann suchte sie sich jemanden, den sie nach dem Weg fragen konnte.

Als erste sah sie eine alte Frau, die wie eine alte Hexe aussah. Sie hatte eine große krumme Nase, einen Buckel und eine schwarze Katze.

„Bist du eine Hexe?“ fragte Rosa. „Und warum bist du nicht hinter den sieben Bergen?“

„Du rotzfreche Göre!“ schimpfte die alte Frau, „Du ungezogenes Kind, das werde ich deinen Eltern sagen!“

`Das kann keine Hexe sein`, dachte sich Rosa. Und weil die alte Frau so drohend ihren Spazierstock schwang, nahm Rosa reißaus. Ohne anzuhalten, fuhr sie aus der Stadt.

Über eine Stunde radelte sie über die staubige Landstraße. 'Jetzt müssen doch bald die sieben Berge kommen', dachte Rosa. Aber ihr Weg führte nur über flache Hügel. Und wen sie auch fragte, wo die sieben Berge waren und wo die Hexen wohnten, niemand konnte es ihr sagen.

Ungeduldig fuhr Rosa immer schneller, und bald hatte sie einen Zirkus eingeholt. Auf dem vordersten der bunten Wagen saß der Direktor.

„Kannst du mir sagen, wo die sieben Berge sind?“, fragte Rosa. „Ich will nämlich Hexe werden.“

„So, Hexe willst du also werden“, sagte der Direktor, „dann bist du hier richtig. Geh nur zum letzten Wagen, da wohnt der Zauberer.“

Der Zauberer sah beeindruckend aus. Er hatte einen blauen Mantel voller silberner Monde, einen spitzen Hut und einen langen weißen Bart.

„So, Hexe willst du also werden“, sagte der Zauberer, „dann schau einmal her und lerne.“ Dann zauberte er ein Kaninchen aus seinem Taschentuch.

„Du hast gemogelt!“ schimpfte Rosa und zog an seinem Mantel.

Und tatsächlich, schon fielen noch mehr Kaninchen heraus, die er dort versteckt hatte. Und sogar ein Blumenstrauß und eine Taube waren dabei.

„Du bist doof“, sagte Rosa, setzte sich auf ihr Fahrrad und fuhr davon.

Die Straße führte in einen dunklen, einsamen Wald, und bald begegnete Rosa keiner Menschenseele mehr. Sie fürchtete sich. Und dann, hinter einem großen Baum, da saß ein Drache! Er war riesengroß, fast so groß wie ein Haus, oder jedenfalls so riesig wie eine Hütte, eine kleine Hütte. Mit seinen roten Augen sah er Rosa an und rauchte. Drachen können das nämlich auch ohne Zigaretten.

Erst wollte Rosa weglaufen, aber dann fiel ihr ein, daß Hexen keine Angst vor Drachen haben dürfen.

„Ich bin eine Prinzessin und will Hexe werden“, sagte Rosa mutig. „Wo wohnt hier die nächste Hexe?“

„Eine Prinzessin? Oh nein!“ heulte der Drache. „Verschwinde hier, bevor so ein blöder Ritter daherkommt und dich befreien will. Immer kommt so ein blöder Ritter, wenn ein armer Drache einer dämlichen Prinzessin begegnet. Und jetzt muß das mir passieren! Drachen fressen keine Prinzessinnen, die machen nämlich Bauchweh. Und sie locken Ritter an! Los, verschwinde!“ Er versuchte, bedrohlich zu brüllen und mußte fürchterlich husten. Rauchen ist nämlich ungesund.

„Ich glaube, hier ist kein Ritter“, beruhigte Rosa den Drachen. „In diesem feuchten Wald würde er sowieso nur verrosten.“

„Verschwinde trotzdem“, wiederholte der Drache und versuchte vergeblich, furchterregend auszusehen. „Sicher ist sicher.“

„Sag mir erst, wie ich hinter die sieben Berge komme, in den Zauberwald“, sagte Rosa.

„Ach“, seufzte der Drache, „wenn ich das wüßte, würde ich nicht hier in diesem doofen Wald hocken und Spaziergänger erschrecken, sondern selber hinfliegen. Aber ich weiß nicht, wo die sind. Ich kann dir nur sagen, daß es viel, viel zu weit weg ist. Mit dem Fahrrad kommst du nie hin!“

`Von wegen, dem zeige ich's!` dachte Rosa und trat noch kräftiger in die Pedalen. `Was weiß so ein jämmerlicher Drache schon von fahrradfahrenden Prinzessinnen!`

Rosa fuhr und fuhr, durch Wälder und Felder, Dörfer und Einöden. Dann führte der Weg bergauf und wurde immer steiler. Bald war Rosa ganz außer Puste und mußte ihr Fahrrad schieben. Dann war sie endlich oben, und auf dem Berggipfel stand ein Schild: „1. Berg“. Jetzt ging es bergab, und immer schneller rollte Rosa hinab, der Wind pfiff ihr ins Gesicht. Das machte Spaß, aber es dauerte nicht lange. Jetzt ging es wieder aufwärts. Und ganz oben stand wieder ein Schild: „2. Berg“. Wieder ging es hinauf und hinunter und hinauf und hinunter, und es waren tatsächlich sieben Berge! Rosa war überglücklich, endlich am Ziel zu sein. Jetzt mußte sie bald die erste Hexe treffen.

Als sie stattdessen einem Holzfäller begegnete, fragte sie ihn: „Wo geht's denn hier bitte zur nächsten Hexe?“

„Hexe?“ Der Holzfäller lachte schallend. „Hexen gibt's hier nicht. Aber hinter den sieben Bergen, da kannst du welche finden.“

„Hinter den sieben Bergen?“ Rosa war entsetzt. „Aber da bin ich doch. Oder ich meine, da komme ich doch gerade her.“

Rosa lief eine Träne über die Wange, und dann weinte sie. Traurig darüber, daß sie nun nie eine Hexe finden würde, machte sich Rosa auf den Heimweg. Endlich sah sie das Schloß ihrer Eltern am Horizont und beeilte sich, um wenigstens noch rechtzeitig zum Abendessen zu Hause zu sein. Aber sie weinte immer noch.

Da traf sie eine hübsche junge Frau, mit langen blonden Haaren, einem Blumenkranz, vielen schweren Einkaufstaschen und einem Kind auf dem Arm. „Warum bist du so traurig?“ wollte die Frau wissen.

„Ich will so gerne Hexe werden“, klagte Rosa, „aber ich habe niemanden gefunden, bei dem ich zaubern lernen kann, nicht einmal hinter den sieben Bergen. Jetzt muß ich Prinzessin bleiben.“

„Da hast du wirklich Glück, daß du mich getroffen hast“, sagte die Frau, „ich bin nämlich eine Hexe.“

Rosa schaute sie ungläubig an. „Aber du bist doch nicht alt, und du hast keinen Buckel und keine große Nase.“

„Na und?“ lachte die Hexe. „Du willst doch auch Hexe werden und bist nicht alt. Aber wenn du willst, kann ich dich häßlich zaubern.“

„Nein!“ schrie Rosa. Und dann stellte sie triumphierend fest: „Und außerdem hast du keinen Besen!“

„Ja“, sagte die Hexe, „die Einkaufstaschen sind für einen Besen viel zu schwer. Und außerdem ist er in der Werkstatt, ich will ihn gerade abholen. Komm doch mit.“

Gemeinsam holten sie den Besen aus der Werkstatt, und dann ging sie mit der Hexe zu ihrem Haus. Rosa war enttäuscht, denn es war nicht einmal aus Lebkuchen. Es war eigentlich ein ganz normales Haus. Vielleicht wuchs ein bißchen mehr Efeu an der Fassade, und vielleicht war der Garten ein bißchen wilder und schöner. Aber sonst war es ganz unauffällig.

Nach dem Abendessen bekam Rosa ihre erste Zauberlektion: Sie lernte, wie man mit dem Zauberbuch Mücken verscheucht. Das ist nämlich das einzige, wozu Zauberbücher gut sind. Am nächsten Morgen lernte Rosa dann die ersten Zaubersprüche: Simsalakadabra Abrakabim, Znafelrif tsi hcurpsrebuaz, Pokus Hokus Omnibus und noch viel unaussprechlichere. Dabei sind Zaubersprüche eigentlich zu gar nichts gut, nicht einmal zum Mücken verjagen. Sprüche und der ganze Firlefanz sind nur dafür da, daß niemand merkt, wie einfach Zaubern in Wirklichkeit ist. Das ist nämlich so: Der ganze Trick besteht darin, fest an das zu glauben, was man zaubern will. Oder besser, noch fester. Will man zum Beispiel ein Kaninchen aus einem Hut zaubern, muß man so fest daran glauben, daß auch der Hut und das Kaninchen darauf hereinfallen. Und wenn dann das Kaninchen selbst glaubt, daß es nun aus dem Hut käme, ist der Trick schon gelungen. Das ist noch recht einfach. Viel schwerer ist es, einen Baum davon zu überzeugen, sich in einen Vogel zu verwandeln. Bäume sind nämlich so dumm, daß sie an fast gar nichts glauben. Und je härter ihr Holz ist, um so starrsinniger sind sie auch noch. Meistens muß man ihren mit einer Säge ein wenig Angst machen.

„Jetzt kennst Du also das Geheimnis der Zauberei. Du darfst es aber niemandem erzählen!“ sagte die Hexe.

Rosa lernte jetzt, an alles mögliche zu glauben, und sogar an vieles Unmögliches. Es dauerte eine ganze Woche, bis ihr der erste Trick gelang. Die Prinzessin übte und übte, und eines Tages wurde sie ungeduldig.

„Wann bin ich denn endlich eine Hexe?“ wollte Rosa wissen und warf den Zauberstab in die Ecke.

„Du bist doch schon eine. Schließlich kannst du ja zaubern“, sagte die Hexe.

So kam es, daß Rosa als erste Hexenprinzessin nach Hause kam. Alle freuten sich, sie wiederzusehen, ganz besonders der König und die Königin, und sogar der Mathematiklehrer.

„Ich bin jetzt eine echte Hexe“, erklärte Rosa ihnen stolz.

Alle machten große Augen, nur der alte Mathematiklehrer nicht. „Hexen gibt es nicht, weil Zaubern unmöglich ist. Also kann es keine Hexen geben, und folglich keine Zauberei“, erklärte er.

Da wurde Rosa wirklich ärgerlich. Sie fuchtelte mit ihrem größten Zauberstab, murmelte ihren finstersten Zauberspruch, und zauberte ihn weg. Natürlich nicht ganz weg, sondern nur ganz weit weg.

Und seitdem erzählen sich die Seeleute von einem alten Mann auf einer einsamen Südseeinsel, der den Affen das Rechnen beibringt.

Viele Jahre später wurde Rosa Königin, die erste Hexenkönigin der Welt. Und ihren Kindern erzählte sie abends die Geschichte von der Prinzessin, die gerne Hexe werden wollte. Und die begann so: „Es war einmal vor langer Zeit…“

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