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Das Märchen vom tapferen Taucher

für Gisi & Rainer

Es war einmal ein furchtbar furchtloser Taucher, der tauchte im Meer einer wunderbaren Mittelmeerinsel. Der Tapfere tauchte einsam und alleine, weitab von den anderen Tauchern, nur begleitet von seinem treuen Photoapparat. Er wollte sie nicht in Gefahr bringen, wenn er mit seinem Blitzlicht den schrecklichen achtarmigen Ödipus aufschreckte, den gierigen Nochmehraal aus seiner Ruhe weckte, den gefährlichen Spiegelhai und den entsetzlichen Zerdrückerfisch.

Eines Tages, als er besonders weit in des Meeres schwarzen Schlund hinabgetaucht war, da schien es dem unverzagten Taucher, als würde ihn jemand beobachten. Er sah sich um. Und tatsächlich, von dort, hinter dem Korallenblock, da winkte jemand zu ihm herüber. Er schwamm hin, doch niemand war zu finden. Aber da unten, bei den Felsen, war da nicht ein Gesicht? Tiefer und tiefer folgte er der geheimnisvollen Erscheinung, jedoch gelang es ihm nie, sie einzuholen. Immer war sie noch etwas weiter unter ihm. Dann, als der Tauchcomputer längst nur noch ‚ERROR‘ blinkte, da merkte der wackere Taucher, daß er nun auftauchen mußte, sollte ihm nicht die Luft ausgehen. Er hielt inne und schaute nach oben, doch nicht ein Schimmer Sonnenlicht war mehr zu erkennen. Als er den Blick wieder nach unten in die geheimnisvolle Dunkelheit wandte, da sah er vor sich eine wunderschöne Nixe mit wallendem blonden Haar.

„"Blubblubblubb blubb blubberblubb“, sagte sie.

Dann nahm sie dem mutigen Taucher den Automaten aus dem Mund und gab ihm einen Kuß. Und plötzlich konnte er nicht nur unter Wasser atmen, sondern auch die Sprache der Wasserfrau verstehen. Er müsse ihnen helfen, bat sie ihn, nur ein tollkühner Taucher wie er könne die Meere der Welt noch vor dem drohenden Verhängnis retten.

Die Meerjungfrau führte ihn weiter hinab, immer dunkler wurde es und die Fische wurden immer größer und immer schrecklicher. Doch seltsamerweise kamen sie ihnen alle entgegen. Eine Herde Seepferdchen galoppierte in Panik an ihnen vorbei, und sogar Haiaiai schoß in wilder Flucht an ihnen vorüber, ohne auch nur zu versuchen, sie zu fressen. Erst wurde der beherzte Taucher der Strömung kaum gewahr, doch bald wurde sie stärker, saugender, reißender, und nur ein kühner Taucher wie er konnte ihr widerstehen. Verzweifelt klammerte sich die Nixe an seinen Arm, und endlich verhinderte nur noch das Gewicht des Bleigurtes beider Ende im gierigen Strudel.

Dann erblickte unser heldenhafter Taucher endlich den Grund nicht nur des Meeres, sondern auch des Verderbens: Der Stöpsel am Boden der Meere war herausgezogen worden, und in reißendem Strom verschwand das Wasser im gurgelnden Nichts. Sogleich erkannte der bärenstarke Taucher, was er tun mußte. Mühsam hob er den schweren Stöpsel, ächzend schob er ihn weiter, lastgebeugt hievte er ihn über den Abfluß, und mit letzter Kraft verschloß er das drohende Loch.

Zeichnung von Michael Gries ©
Zeichnung von Michael Gries ©

Der Jubel in den Ozeanen war groß, und eine lange Prozession von dankbaren Nixen und Nöcken, Fischen und Quallen, Walen und Delphinen geleitete den ritterlichen Taucher zurück zur Oberfläche. Flötenfische und Geigenrochen begleiteten den Triumphzug mit übermütigem Getute und Fiedulieren. Sie alle verabschiedeten ihn herzlich und wünschten ihm Lebewohl.

Dann nahm er seinen Lungenautomaten wieder in den Mund und schwamm zurück. Mit dem letzten Atemzug aus seiner Flasche erreichte er das Boot und kletterte an Bord, wo die anderen Taucher schon auf ihn warteten. Geduldig hörte er sich ihren Spott an, daß er über das Photographieren wohl schon wieder (wieso schon wieder?) seine Luft vergessen habe und daß er wohl bald Kiemen brauche. Unser bescheidener Taucher erzählte nichts von seinem Abenteuer, denn diese Banausen hätten ihm doch nur einen tiefen Rausch attestiert oder ihn gar für untauchlich erklärt. Es gnügte ihm, zu wissen, daß ohne ihn bald niemand mehr hätte tauchen können.

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