Nichts als Hokuspokus!
Das Häuschen unterschied sich kaum von den anderen in der alten Stadtrandsiedlung. Es war weiß gestrichen, hatte grüne Fensterläden und ein rotes Ziegeldach. Sebastian ließ seinen Blick über die bunte Flut der Frühlingsblumen hinter dem Lattenzaun schweifen, versuchte, etwas Bemerkenswertes zu entdecken. Doch es war normal, vielleicht ein wenig malerischer und idyllischer als die Umgebung, aber eben doch normal. Gerade deshalb erschien es ihm so unpassend, und einen Augenblick lang fragte er sich, ob es vielleicht nur ein Traum sein konnte. Sein Blick wanderte zurück zum Schild neben der Klingel. Dort stand wirklich ‚Hexe Eva‘.
Er hatte nur zufällig davon erfahren, daß eine Hexe in seiner Nähe wohnte. Ausgerechnet das Fernsehen war schuld – eine seltsame Durchmischung der Zeiten. In einer Talkshow hatte ein Satansjünger auf dem ‚Schleudersitz‘ seine Thesen vertreten, und im Publikum, in der ersten Reihe, saß ein Mädchen mit blonden Locken, Dirndl und einem roten Apfel in der Hand. Sie wirkte wie der Inbegriff der Unschuld, der Traum jeder Großmutter. Doch dann erzählte sie ins Mikrophon, daß sie sich als Hexe betätige, daß sie den Teufel beschwöre und Schadzauber und tödliche Krankheiten über unliebsame Mitmenschen verhänge – natürlich für Geld. Sebastian war entsetzt. Die Liebenswürdigkeit, das Lächeln, mit dem sie berichtete, daß sie Menschen, die sie selbst nicht haßte, ja nicht einmal kannte, Krebs und Schlimmeres anhexte, ließen ihn erschaudern.
Er hatte sie wiedererkannt! Sie wohnte wohl nur ein paar Ecken weiter, und er war ihr schon oft begegnet. Sebastian hatte sie immer gegrüßt, wenn er sie gesehen hatte.
Von der folgenden Fernsehdiskussion bekam Sebastian nicht mehr viel mit. Seine Gedanken hingen bei der Hexe Eva.
Er war ein aufgeklärter Mensch, davon war er überzeugt, und auch nicht sonderlich religiös. Es hätte ihn kalt lassen müssen, solch einen Unfug zu hören. Sollte die Hexe doch kassieren, was Dummköpfe für ihren Hokuspokus boten! Aber es ließ ihn nicht kalt. Eva war keine anonyme Fernsehgestalt, er kannte sie, und sie war auch kein häßliches altes Weib, sondern der Liebreiz in Person. Natürlich nahm er nicht an, man könne jemandem den Charakter an der Nasenspitze ansehen, aber er fühlte, daß hier etwas nicht zusammenpaßte. Er mußte sie kennenlernen, sich selbst ein Bild von ihr machen.
Wenige Tage später, auf dem Heimweg von einem langen Zivildienst-Arbeitstag im Altenpflegeheim, begegnete er Eva wieder. Sie trug ein blaues Bauernkleid mit langem Rock, und wie immer wirkte sie so, als stamme sie aus einer längst vergangenen Welt. Doch es paßte zu ihr, in Jeans konnte er sich Eva kaum vorstellen. Die beiden grüßten sich wortlos wie üblich, und sie waren schon aneinander vorbeigegangen, als Sebastian innehielt und sich umdrehte.
„Warte!“
Eva blieb stehen und wandte sich um. „Ja?“ Sie lächelte, und Sebastian konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, sie habe ihn erwartet.
„Ich habe dich im Fernsehen gesehen.“ Er zögerte, wartete auf eine Reaktion. Hatten schon andere sie darauf angesprochen, fiel es ihr vielleicht auf die Nerven? Hier in der Nachbarschaft hatte bestimmt niemand Verständnis für ihren Erwerbszweig. War sie möglicherweise schon beschimpft worden? Doch Evas Miene blieb liebenswert, als könne sie von niemandem etwas Schlechtes erwarten, geschweige denn es selbst tun. Sie hob nur ein wenig die Augenbrauen, als fordere sie ihn zum Weiterreden auf.
„Beim ‚Schleudersitz‘“, fuhr Sebastian unsicher fort. „Ich würde gerne mehr darüber erfahren.“
Seine Einladung ins Eiscafé lehnte Eva ab, weil sie, wie sie sagte, auf den Wirt nicht gut zu sprechen war. Also machten sie einen Spaziergang am nahen Waldrand entlang. Eine Weile lang gingen sie schweigend nebeneinander her, während Sebastian einen intelligenten Gesprächsbeginn suchte. Wurde sie ungeduldig? Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln.
„Hast du ihn verhext?“ fragte er schließlich, weil er keinen besseren Anfang fand.
Es brauchte einen Moment, bis Eva verstand. „Den Eismann?“ Sie lachte. „Nein, warum?“
„Du magst ihn nicht, hast du selber erzählt.“
„Wenn ich jeden behexen würde, über den ich mich irgendwann geärgert habe, käme ich aus dem Verfluchen nicht mehr heraus“, antwortete sie voller Unschuld. „Und die Geduld der Teufel ist auch nicht unbegrenzt.“
„Teufel?“
„Dämonen, Geister, nenne sie, wie du willst. Sie sind dienstbar, wenn man sie zu binden versteht, aber sie haben ihren eigenen Willen.“ Sie pflückte eine Blume vom Wegrand, roch an ihr und steckte sie ins Haar.
„Können die Geister...“, begann Sebastian. Er kam ins stocken, obwohl ihm bei dieser Bezeichnung schon wesentlich wohler war. „Können sie nicht auch Gutes tun?“
„Gutes?“ Eva sah ihn amüsiert an. „Was ist gut oder schlecht? Das sind doch Kindermärchen. Sag bloß, du glaubst daran.“
Sebastian war verdutzt. „Ja“, brachte er unsicher hervor, „oder auch nein, wenn du die kirchliche Moralvorstellung meinst, zumindest die katholische.“
Eva blieb stehen und sah ihn belustigt an. „Was nun, ja oder nein? An welchen Gott glaubst du?“
Was sollte er antworten? Er wollte sich nicht weiter auf den unsicheren Boden der Philosophie und Theologie vorwagen. Schon seine Kriegsdienstverweigerung wäre um ein Haar an solchen Fragen gescheitert. „Ich bin Atheist“, erklärte er verlegen. „Aber ich glaube an das Gute im Menschen, und an die Nächstenliebe.“ Erst jetzt fiel ihm auf, daß sie ein umgekehrtes Kreuz um den Hals trug.
„Oh je!“ seufzte Eva halbernst. „Aber solange du kein Christ bist, ist wenigstens noch nicht alles verloren.“
Kein Christ? Er fühlte sich in die Defensive gedrängt und versuchte, zum Gegenangriff überzugehen. „Wenn du an den Teufel glaubst, dann mußt du auch an Gott glauben. Sie gehören doch zusammen. Bist du dann nicht auch christlich?“ War das noch folgerichtig? Sebastian war sich nicht sicher. Er hatte diese moralische Diskussion nicht beabsichtigt, und Eva gewiß ebenso wenig. Das Gespräch war ihrer Regie entglitten und folgte seiner eigenen Logik.
„Nein“, lautete Evas Antwort. „Satan ist ein Gott, so wie Jehova. Aber Jehova – wenn es ihn wirklich gibt, mir ist jedenfalls noch kein Engel erschienen – erpreßt seine Leute mit Fegefeuer und Himmel und Hölle. Satan gibt seinen Jüngern Freiheit. Der Mensch ist nicht gut, er ist frei.“
Sebastian spürte, daß es falsch war, aber er wußte darauf nichts mehr zu entgegnen. Eva erzählte fröhlich weiter, erklärte die Hölle zu einem anderen Paradies, berichtete voller Unschuld, wie ihr Satan begegnet war, daß sie die Schule abgebrochen hatte, um frei zu sein und von ihren schwarzen Künsten zu leben. Sebastians Zweifel an der Existenz von Magie ließ sie nicht gelten.
„Probiere es doch aus. Bestimmt gibt es jemanden, den du auf den Tod nicht ausstehen kannst“, sagte sie zum Abschied. „Du hast einen Fluch frei!“
Eine Hexe, die unbekannten Menschen den Teufel auf den Hals hexte, mußte böse sein! Eva jedoch schien wirklich nichts von diesen ethischen Kategorien zu wissen, und noch weniger ließ sie sich darin einordnen. Sebastian schwirrte der Kopf nach diesem Gespräch. Er fühlte, daß ihr Tun schlecht war. Andererseits gab es ja keine Zauberei. Warum also sollte sie nicht vom Aberglauben mißgünstiger Zeitgenossen leben, die es nicht besser verdient hatten, als hereingelegt zu werden? Wäre es für Eva nicht völliger Ernst gewesen, hätte er es hinnehmen können. Aber wenn sie recht hatte, wenn ihre Magie doch Schaden bewirkte?
Tagelang brütete er über diesem Problem, wälzte es von allen Seiten und konnte sie weder verurteilen noch freisprechen. Denn auch wenn er sich dagegen wehrte, mußte er sich eingestehen, daß er Eva sehr reizvoll fand. Unfug, er konnte sich doch nicht in eine Hexe verlieben! Sebastian versuchte, sie zu vergessen, aber es gelang ihm nicht. Sie war zu anziehend und zu erschreckend. Was sollte er tun? Letztlich hing alles davon ab, ob sie eine harmlose Hochstaplerin oder tatsächlich eine gefährliche Zauberin war.
Dann fand er eine wirklich einfache Lösung. Er würde es ausprobieren, schließlich hatte er ja einen Freifluch.
Sebastian griff in die Hosentasche und vergewisserte sich, daß die Haarlocke noch da war. Dann faßte sich ein Herz und drückte auf den Klingelknopf. Nur ein leises Summen signalisierte, daß er die Gartentür öffnen konnte, aber für ihn war es wie ein Glockenschlag. Es gab kein Zurück mehr.
Eva öffnete die Haustür. Sie trug ein bäuerlich wirkendes blaues Kleid mit weißen Blumenmuster. „Wie schön, daß du gekommen bist!“ Sie umarmte ihn zur Begrüßung, aber Sebastian, im Widerstreit der Gefühle, versteifte sich erschrocken. Eva ließ ihn los. „Du kommst genau richtig. Ich habe gerade Tee gekocht.“
Hatte sie sein Kommen vorausgesehen? Sebastian schüttelte den unangenehmen Gedanken von sich. So etwas war unmöglich. Er ließ sich ins Wohnzimmer führen und sah sich neugierig um. Was er erwartet hatte, wußte er selber nicht, jedenfalls etwas anderes, als er vorfand. Auf den ersten Blick wirkte das Zimmer normal, fast ein wenig bieder. Die Möbel waren alt, und in der verschnörkelten Armlehne des Sessels, in dem er nun Platz nahm, entdeckte er Holzwurmlöcher. Doch trotz des dunklen Holzes der Einrichtung wirkte der Raum hell und freundlich. Auf dem Tisch stand eine Schale voll roter Äpfel. Eva und der Apfel der Erkenntnis? Erst jetzt erkannte Sebastian die Symbolik. Eine Kristallkugel auf dem Schrank war das erste sichtbare Zeichen, daß hier eine Hexe lebte. Dann entdeckte er an einem Wandhaken ein Pendel, auf der Kommode einen Satz Tarotkarten, und schließlich fiel sein Blick auf die beiden großen Giger-Drucke über dem Sofa. Sebastian wandte seine Augen angewidert von den morbiden Graphiken ab. Gigers ‚Alien‘ war ihm unheimlich gewesen, aber diese Bilder fand er widerlich.
„Die Kunden erwarten sowas.“ Eva hatte sich unbemerkt hinter ihn gestellt. „Eigentlich gefallen sie mir auch nicht. Lieber hätte ich einen Totenschädel oder so.“ Sie schenkte ihm Tee ein und stellte die Kanne ab.
Wie konnte sie dabei nur lächeln? Aber sie lebte wohl zu weit jenseits von Sebastians sicherer, ordentlicher Welt, als daß deren Vorstellungen in diesem Haus Gültigkeit haben konnten. Nun hatte er selbst die Grenze überschritten, indem er hierher gekommen war. Wieder kamen ihm Bedenken. War sein Vorhaben nicht gefährlich? Machte er sogar gemeinsame Sache mit dem Bösen? Unfug, es gab keinen Pakt, keine Unterschrift mit Blut, nur ein paar Haare. Und der Teufel existierte ohnehin nicht.
Sebastian versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. Bald würde er Evas Mißerfolg sehen können. Dann wäre sie entzaubert, keine erschreckende Hexe mehr, sondern eine sehr anziehende junge Frau. „Wie lange dauert es eigentlich, bis der Fluch wirkt?“
Eva nahm einen Schluck Tee. „Das kommt darauf an. Manchmal verunglücken sie nach ein paar Tagen, dann wieder dauert es ein halbes Jahr, bis sie todkrank sind.“
Es überraschte Sebastian immer wieder, mit welcher Beiläufigkeit sie sprach. Gewiß, es war nichts als Hokuspokus, aber ihr war es ernst, daran zweifelte er nicht mehr. Er hätte nicht kommen sollen.
„Schau mich doch nicht an wie ein Gespenst.“ Sie mußte ihm seine Zweifel angesehen haben. „Ich tue ja nichts Schlechtes, ich helfe nur. Was ist schlimm daran, jemanden zu bestrafen, der dir etwas angetan hat? Es gibt einen Spruch von dem großen Magier Aleister Crowley, der lautet ungefähr so: „Der Mensch ist frei. Er kann tun und lassen, was er will, wenn er niemandem dabei schadet. Er darf bauen, was er will. Er hat das Recht zu säen, was er will, sein Land zu bestellen, wie er will, seinen Brunnen zu bohren, wo er will, zu lieben, wen er will. Und er hat das Recht, jeden zu töten, der ihm diese Rechte streitig macht.“ Dabei helfe ich. Wer ist es, an dem du dich rächen willst?“
Sebastian zuckte zusammen. „Mußt du das wissen?“
Die Hexe schüttelte den Kopf. „Hauptsache, du hast etwas, was dem Betreffenden gehört, am besten ein paar Haare oder sowas. Die Teufel werden ihn dann finden. Hast du was mitgebracht?“
Sebastian nickte und zog den Büschel aus der Tasche.
„Sehr gut. Dann laß uns anfangen.“ Sie leerte ihre Tasse. „Komm mit.“
Sie führte ihn in ein anderes Zimmer. Wände, Boden und Decke waren schwarz gestrichen, durch das kleine Fenster drang nur wenig Licht herein. Es gab keine Einrichtung, nur einige Kerzenleuchter und eine Kiste. Aus dieser nahm Eva ein Stück Kreide und begann, zwei große Kreise mit Pentagrammen darin auf den Boden zu zeichnen. In beiden ließ sie eine kleine Lücke wie einen Eingang offen. In bronzenen Schälchen mischte sie, unverständliche Formeln murmelnd, einige Pulver zusammen. Räucherstäbchen begannen, die Luft mit einem schweren Duft zu füllen. Sie schloß die Fensterläden und zog die dunklen Vorhänge zu. Schließlich entzündete sie die Kerzen und stellte sie an den Spitzen der Pentagramme auf. Die Flammen tauchten den Raum in ein unheimliches, flackerndes Licht.
„Ich muß noch etwas aus dem Garten holen. Warte hier.“
Es war Sebastian nicht wohl dabei, alleine hierzubleiben. Doch Eva kam schnell zurück, einen zappelnden schwarzen Hahn in den Händen.
„Jetzt können wir anfangen. Tritt in diesen Kreis.“ Hinter ihm schloß Eva die Kreidestriche. „Du darfst auf keinen Fall heraustreten, was auch passiert. Gib mir die Haare.“ Ihre Stimme klang ernst, fast bedrohlich.
Sebastian reichte ihr, was sie verlangte. Er konnte sich ein kurzes Lächeln nicht verkneifen. Es war nicht leicht gewesen, an diese Locken zu gelangen. Ein Freund, der nicht wußte, worum es ging, hatte ihm geholfen. Einige Male hatte er sich vergeblich mit der Schere in der vollen Straßenbahn an sein Opfer angeschlichen, bevor er endlich ein kleines Haarbüschel abschneiden konnte. Eine harmlose Spielerei, hatte Sebastian ihm versichert, und eigentlich stimmte das ja auch.
Hoffentlich stimmte es. Er war sich plötzlich nicht mehr ganz sicher. Wenn er sich geirrt hatte? Würde das Opfer es verdient haben? Er wagte nicht, weiterzudenken.
Eva betrachtete die Strähne nachdenklich, schien zu zögern, dann schüttelte sie den Kopf, als wollte sie sich aufwecken, und begab sie sich in ihr Pentagramm. Auch dieses Zeichen vervollständigte sie, sorgfältig darauf bedacht, keine noch so kleine Lücke zu lassen. Sie senkte den Kopf, atmete tief durch und begann die Beschwörung.
„Satan, ich rufe dich!“
Sie hob den Hahn hoch und schnitt ihm mit einer schnellen Bewegung den Kopf ab. Das Blut strömte über ihre Hände in eine bereitgestellte Schale.
„Nimm dieses Opfer und schicke deine Diener.“
Betroffen blickte Sebastian zu Boden. Den Tod des armen Tieres hatte er nicht gewollt. Indessen sang Eva lateinische Formeln, von denen er kein Wort verstand. Eine grüne Stichflamme stieg zischend aus dem Gefäß mit dem Tierblut. Pyrotechnische Effekthascherei, sagte sich Sebastian. Was würde jetzt folgen?
Ein leises Sirren drang an seine Ohren, wurde lauter, und wuchs zu einem mächtigen Brausen. Akustischer Hokus Pokus also. Wo waren die Lautsprecher? Jetzt mischte sich ein leises Lachen in das Tosen. Eva sah sich verwirrt um. Doch sie machte weiter. Sie nahm eine Hand voll Pulver und warf es hoch. Es explodierte mit lautem Knall und greller Flamme. Doch das Leuchten verlosch nicht. Was Sebastian für eine Blendung seiner Augen gehalten hatte, blieb als erst blasses, bald immer deutlicheres Glimmen in der Luft zwischen den Bannkreisen stehen. Es begann, sich zu bewegen, sich zu drehen. Wie ein Strudel kreiste es um Evas Pentagramm und zog sich um sie zusammen. Die Kerzenflammen zitterten und erloschen. Das war kein Trick mehr, dessen war sich Sebastian sicher. Was hatte er angerichtet!
Eva blickte sich unsicher um. Irgend etwas stimmte nicht. Wieder erklang das unheimliche Lachen. Diesmal schien es aus dem Wirbel zu kommen. Sebastian hielt sich die Ohren zu, und Eva schrie auf. Dann drang die leuchtende Wolke in ihren Kreis ein. Ihre Haare wehten, und bald wurde sie mitgerissen in die wilde Rotation. Ihr aufgerissener Mund ließ Sebastian erkennen, daß sie noch immer schrie. Zu hören war nur ein brüllendes Gelächter.
Über Evas herumwirbelndem Kopf nahm die Erscheinung Gestalt an. Ein grünliches Gesicht, eine Fratze eher, materialisierte sich, und die körperlose Stimme konzentrierte sich auf diesen Fleck. Der Rest des Körpers, falls das Wesen einen solchen hatte, verschwamm im wabernden Dunst. Das Lachen verstummte schlagartig. Eva fiel zu Boden und blieb zitternd liegen.
„Danke, Sebastian“, sagte die Grimasse in auf beunruhigende Weise freundlichem Ton und leckte sich die spitzen Zähne. „Es ist wahrlich nicht unsere Gewohnheit, Menschen zu danken, aber in deinem Fall müssen wir wohl eine Ausnahme machen.“ Ein schrilles Kichern unterbrach seine Worte. „Was uns nie gelungen ist, hast du mit deinem Trick geschafft. Ihr Kreis ist nun offen, ihr eigenes Haar hat uns eingelassen. Und wir sind frei, endlich frei!“ Das Gesicht verzerrte sich zum Spottbild eines Lächelns.
Eva versuchte, aufzustehen, aber es gelang ihr nicht. Unsichtbare Schläge ließen sie immer wieder zusammensinken. Sebastian, der den Eindruck hatte, Dank von der falschen Seite zu erhalten, kämpfte mit der Versuchung, wegzulaufen. Aber er wagte nicht, der Kreidelinie nahe zu kommen. Die leeren Augen des Wesens schienen ihn zu beobachteten. Was mochte es planen? Sebastian schaffte es nicht, seinen Blick abzuwenden. Er fühlte Todesangst.
Nach endlos erscheinender Zeit wandte sich das schwebende Gesicht wieder Eva zu. Ein triumphierendes Grinsen ließ es für einen Augenblick noch grotesker erscheinen, dann verschwand es. Eva wurde hochgerissen, und obwohl sie sich verzweifelt wehrte, gelang es ihr nicht, dem unsichtbaren Griff zu entkommen. Hilflos zappelte sie in der Luft, ihre Glieder verdrehten sich, sie schrie vor Schmerzen. Qualm quoll ihr aus Mund und Nase, und mit einem Knall ging ihr Körper in einer Flamme auf.
„Frei!“ jubelte die unheimliche Stimme. „Frei!“
Nur wenige Sekunden, dann wurde es still. Eva blieb verschwunden. Nichts deutete darauf hin, was mit ihr geschehen war. Kein Blut, keine Asche, nichts. Nur ein wenig Rauch, der sich schnell verflüchtigte, zeugte von dem unheimlichen Schauspiel. Sie war zur Hölle gefahren, daran zweifelte Sebastian nicht. Oder in ihr Paradies, so versuchte er sein Gewissen zu beruhigen.
Erst lange danach wagte er sich vorsichtig aus seinem Pentagramm. Durch den Spalt der Vorhänge drang rötliches Abendlicht ins Zimmer. Die Angst vor einer Nacht an diesem Platz ließ ihn vorsichtig einen Fuß über den Kreidestrich setzen. Er blickte sich mißtrauisch um. Nichts geschah, er war alleine. Dann rannte er los und machte erst halt, als er das Hexenhaus weit hinter sich gelassen hatte.
Noch einmal drehte er sich um. Die Häuser in den Gärten wirkten harmlos, verträumt. Die Sonne versank hinter den Obstbäumen. Hatte er Evas Höllenfahrt wirklich erlebt? Noch weigerte er sich, sie für tot zu halten. Das war es wirklich nicht, was er vorgehabt und erwartet hatte. Eines aber war Eva zweifellos gelungen: Sie hatte ihn überzeugt!
Dieser Text ist bereits Alien-Contact-Anthologie Das Herz des Sonnenaufgangs (1996) und im Bizzare-Underground-Magazin Dark Spy (4/2006) erschienen.

This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 License .
Sie dürfen diesen Text privat herunterladen, ausdrucken, weitergeben und weiterverbreiten, so lange sie ihn nicht verändern und die Urheber- und Lizenzangabe beibehalten. Sollten Sie den Text an anderer Stelle veröffentlichen, geben sie mir bitte Bescheid. Veränderungen des Textes sind untersagt.
Jede kommerzielle Nutzung bedarf der schriftlichen Zustimmung des Urhebers Dennis Merbach.