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Der Fehlerkobold

Wirklich, ich hatte mir alle Mühe gegeben! Ich hatte das Manuskript selbst durchgelesen, von Freunden korrigieren lassen und wieder gegengelesen. Und doch, alles war vergeblich geblieben: Als es gestern es aus dem Lektorat zurückgekommen war, strotzte der Text voll roten Markierungen. Es ist zum verzweifeln!

Nur ein kleiner Trost ist mir geblieben: beim Nachbessern hatte ich neue, sogar vom Lektor übersehene Fehler entdeckt. Also bin ich wenigstens nicht der einzige Schussel - oder ist der Fehlerteufel nur viel geschickter als wir alle?

Heute nacht wurde ich von merkwürdigen Geräuschen geweckt. Im Halbschlaf hörte ich ein Rascheln und Schaben, ja ich glaubte sogar, ein leises Fluchen zu vernehmen. 'Einbrecher!' schoß es mir durch den Kopf. Ich schlug die Augen auf, und vorsichtig, ohne mich zu bewegen, spähte ich in die Dunkelheit.

Auf meinem Schreibtisch bewegte sich etwas. Eine kleine Gestalt, kaum spannenlang, raschelte mit den Papieren und lief hektisch hin und her. Und tatsächlich, sie fluchte leise. Das konnte nur ein Traum sein. Oder doch nicht? Ich beobachtete das merkwürdige Treiben eine Weile, unschlüssig, was zu tun sei. Dann schaltete das seltsame Wesen doch tatsächlich meinen Computer ein. Das reichte! Ich knipste das Licht an.

Der Zwerg stieß einen Schrei aus, schwang sich mit einem gewagten Sprung über den Rand des Tisches und hielt sich an der Kante fest, um nicht herunterzufallen. Dann meckerte er, daß ich ihm lieber aus dieser mißlichen Lage helfen solle, statt so blöde zu schauen.

Ich jedoch war zu verwirrt, um etwas anderes zu tun, als ihn fassungslos anzustarren und zu beobachten, wie er sich mühsam wieder hinaufhangelte. Erst kamen struppige, schwarze Haare zum Vorschein, dann ein breites, faltiges Gesicht, an dem wirklich alles groß zu sein schien, einschließlich der Brille, und schließlich schwang er einen dicken Körper mit dünnen Armen und Beinen über die Tischkante. Er hatte abgetragene, altertümlich aussehende Kleidung voll mit Tintenflecken. Kaum oben angekommen, begann er aufs neue zu schimpfen. Wie ich dazu käme, anständige Kobolde bei der Arbeit zu stören? Was ich jetzt schon hier täte, hätte ich doch erst in einer Stunde nach Hause kommen sollen? Und überhaupt, welches Recht hätten Schreiberlinge und Tagediebe wie ich, ihm das Leben schwer zu machen?

Das war zuviel! Schließlich waren dies meine Wohnung und mein Schreibtisch. Also fragte ich ihn, was er hier zu suchen habe und welche Arbeit das wohl sein solle.

Dumme Fragen wären das, warf er mir vor. Er wäre natürlich der Fehlerkobold, und er würde Fehler machen, was denn sonst? Und nun solle ich ihn gefälligst seine Pflicht tun lassen und weiterschlafen.

Doch so einfach ließ ich mich nicht abspeisen. Es gab ihn also wirklich, den Fehlerteufel, und ich wollte mehr über ihn wissen.

Das brachte ihn nur noch weiter in Rage. Er sei, so schnauzte er mich an, der Fehlerkobold. Er habe weder etwas mit diesem religiösen Firlefanz vom Teufel und dem Lieben Gott zu tun, noch sei er böse oder gar teuflisch. Im Gegenteil, es gäbe nur wenige ehrenhaftere und nützlichere Tätigkeiten als die seine. Er konnte mir meine Zweifel wohl ansehen, und so begann er, mit dem Eifer der Überzeugung zu erklären, welch schreckliches Schicksal die Welt ohne ihn erleiden müßte. Fehlerfreiheit sei der erste Schritt zum Untergang, denn Perfektion bedeute Stagnation, und nur Unvollkommenheit biete den Keim von Weiterentwicklung und Fortschritt. Sich an Regeln halten, das könne doch jeder - Fehler machen, das sei wahre Kreativität. Ich solle ihm also bitte dankbar sein.

Wofür, wollte ich nun wissen und fragte ihn, was genau er da eigentlich täte.

Der Kobold holte Luft, um eine neue Schimpfkanonade zu beginnen, doch dann hielt er inne. Ob ich tatsächlich mehr über seine Arbeit erfahren wolle? Ob ich mich wirklich dafür interessiere? Sein Gesicht wirkte plötzlich viel freundlicher. Danach hatte ihn schon lange niemand mehr gefragt. Und da er seinen Beruf ja im Verborgenen ausüben müsse, habe er selten Gelegenheit, mit jemandem darüber zu reden. So begann er, mir zu erklären, daß er dafür verantwortlich sei, in allen Texten eine gewisse Mindestzahl von Fehlern zu bewahren oder diese, so sie nicht erreicht werde, selbst zu machen. Deshalb sei er allnächtlich unterwegs, ausgerüstet mit Bleistiften und Radiergummis, Schabemessern, Federhaltern und einem Tintensortiment, um Schriftstücke aller Art zu kontrollieren und, falls erforderlich, zu 'verbessern'. Er hielt sich viel darauf zugute, richtige Buchstaben spurlos zu beseitigen und durch falsche zu ersetzen, die dem jeweiligen Schriftstil perfekt angepaßt waren. Kein anderer Künstler, so versicherte er mir, erreiche eine solche Perfektion. Stolz zeigte er mir seine Gerätschaften. Eine Kunst, ja, genau das sei seine Arbeit.

Nun seufzte der Fehlerkobold. Zumindest sei sie es einmal gewesen, fuhr er fort. Im Zeitalter von Feder und Tinte habe er noch individuelle Handschriften nachzuahmen gehabt, habe er jeden Fehler einzeln kreieren können und die Muße gehabt, wirklich sorgfältig und schöpferisch zu arbeiten. Doch dann habe man die Schreibmaschine erfunden, und es begann die Ära der Durchschläge. Lästig sei es gewesen, alles zweimal machen zu müssen und die Hälfte der Zeit mit der Suche nach dem Doppel zu verbringen. Er habe ja nicht ahnen können, was dann kommen sollte. Mit dem Computer sei alles viel, viel schlimmer geworden. Es gäbe immer wieder neue Programme, in die er sich erst einmal einarbeiten müsse. Vor lauter Weiterbildung käme er kaum noch zu seinem Tagwerk, so klagte er. Gewiß, moderne Rechtschreibkorrektursysteme und Textverarbeitungsprogramme brächten von sich aus völlig neuartige Fehler zustande, an die zuvor niemand gedacht hätte. Doch was er nun machen mußte, das war einfach nicht mehr künstlerisch. Tasten drücken und sich durch konfuse Kommandos zu kämpfen, das sei etwas für Techniker. Und überhaupt, immer öfter müsse er den Technischen Hilfszwerg rufen, um in diesem Elektronikwirrwarr zum Ziel zu kommen. Das seien doch keine zivilisierten Zustände mehr, oder?

Ich nickte verständnisvoll. Der Arme hatte sich in Rage geredet, und man konnte wirklich Mitleid mit ihm haben.

Aber das Ärgste, so lamentierte der Fehlerkobold nun, das seien die Sicherheitskopien und Backups, verteilt über Dutzende von Disketten, Wechselplatten und Cassetten. Wie solle er denn da noch einen Überblick behalten? Wie könne er sichergehen, wirklich alle Duplikate eines Textes bearbeitet zu haben? Denn dazu müsse er sie ja erst einmal finden. Er atmete tief durch. In manchen Nächten komme er sich schon vor wie ein gewöhnlicher Einbrecher, der fremde Wohnungen durchwühlt. Eine Disk hier und eine da, eine Kopie im Büro, im Wäscheschrank oder sonstwo an den absurdesten Verstecken. Seine Rede brachte ihn sichtlich aus der Fassung. Wie sollte er da noch gründlich arbeiten, geschweige denn seinen Zeitplan einhalten? Ob es denn wirklich notwendig sei, so fragte er mich, einem rechtschaffenen Kobold das Leben so schwer zu machen? Sei das etwa zivilisiertes Verhalten? Und dann noch die Unsitte mit den Paßwörtern!

Das war zuviel für den armen Kerl. Er brach schluchzend auf meinem Schreibtisch zusammen, und seine Tränen ließen die Tinte auf meinen Ausdrucken verlaufen. Ich tröstete den Fehlerkobold, machte ihm Mut und versprach, es ihm künftig leichter zu machen. Nachdem ich ihm die Lagerorte aller meiner Disketten gezeigt und ihm mein System erklärt hatte, kochte ich Tee für uns beide und ließ ihn sein Werk verrichten. Wir verabschiedeten uns herzlich voneinander.

Ich blieb mit einem richtig schlechten Gewissen zurück und nahm mir vor, in Zuhkunft wieder mehr Feeler zumachen. Habt Verstendnis für den Felerkoboldt!

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