Eine Drachengeschichte
I
Alles begann mit Giesebert dem Grimmigen, später genannt Giesebert der Lindwurmstecher oder, von seinen Untertanen, Giesebert der Wurmstichige. An einem schönen Frühlingstag im Jahre des Herrn 917 zog er aus, um einen Drachen zu erschlagen. Nicht, daß er Drachen gehaßt hätte, eher im Gegenteil. Ein Wesen, das seine Nachbarn durch pure Anwesenheit davon überzeugte, daß es besser wäre, ihm freiwillig zu jedem vollen Mond eine Jungfrau zu übergeben, als seinen Zorn heraufzubeschwören, nötigte ihm als Feudalherrn einen gewissen Respekt ab. Überwiegend waren sie ihm allerdings gleichgültig. Aber in eben jenem Jahr war Giesebert, in würdiger Tradition seiner Ahnenreihe, wieder einmal Pleite, und weder mit Silberzungen noch mit Daumenschrauben ließen sich seine Bauern überreden, schon wieder einen Beitrag zur Sanierung der fürstlichen Schatztruhe zu leisten. Da Giesebert es sich jedoch in den Kopf gesetzt hatte, statt des alten Herrenhauses endlich eine seines Standes würdige Burg zu errichten, mußte er sich eine andere Geldquelle suchen. Der Drache von Greifenstein kam ihm da gerade recht, mußte er doch, wie alle seine Artgenossen es bekanntlich tun, auf einem Hort von Gold sitzen.
Giesebert kam zur rechten Zeit, als wieder eine Jungfrau dem Ungetüm zum Fraß vorgeworfen werden sollte. Die Bevölkerung jubelte, als Giesebert voll gerüstet in die Schlacht zog, und blieb in sicherem Abstand zurück, als ein Zittern des Bodens das Nahen des Lindwurms ankündigte. Die Jungfrau hatte man trotzdem sicherheitshalber am üblichen Pfahl angebunden, um gegebenenfalls einen schnellen und glaubwürdigen Seitenwechsel vollziehen zu können. Schon beim ersten Blick auf das riesige Tier konnte der Ritter diese Vorsichtsmaßnahme sehr wohl verstehen. Baumhoch ragte der gehörnte Kopf des Drachen über Giesebert auf, und der lange, messingschuppige Hals erweckte nicht den Eindruck, als ob das Schwert ein geeignetes Werkzeug wäre, um ihn zu durchtrennen. Es wurde ein langer und blutiger Kampf, und um Haaresbreite hätte der Wurm ihn gewonnen. Nur zufällig traf die längst stumpfe Klinge die einzig empfindliche Stelle des Untieres, und nach einem letzten feurigen Atemzug brach der riesige Leib neben dem tapferen Ritter zusammen.
Giesebert war zu schwach, um zu jubeln. Mühsam zog er den verbogenen Helm von der verbeulten Rüstung, wischte die letzten versengten Reste seiner Haare von seinem krebsroten Kopf, und betrat die Drachenhöhle, um seinen Reichtum in Besitz zu nehmen.
Doch da war kein Schatz. Kein Stückchen Gold, kein Diamant, kein Silber, nicht einmal eine jämmerliche Kupfermünze. Verzweifelt suchte Giesebert in jedem Winkel der Grotte, aber er fand nichts außer ein paar zernagten Knochen. Der Drache sank deutlich in seiner Achtung. Warum mußte ausgerechnet er an ein so dämliches Exemplar geraten? Die Welt war ungerecht.
Er wollte sich schon zum Gehen wenden, da sah er es. Es lag mitten in der Höhle, aber Giesebert hatte es zuerst für einen Felsen gehalten. Aber es war ein Ei! Wütend schlug er darauf ein. Diesem knauserigen Mistvieh würde er es schon zeigen. Doch das Schwert zerbrach, die Streitaxt wurde schartig, und auch der Morgenstern zeigte keine Wirkung. Atemlos gab er auf.
Das Volk jubelte Giesebert zu. Als er jedoch seinen Lohn verlangte, wurde es still. Er dürfe sich vom Hort des Drachen nehmen, soviel er tragen könne, beschied man ihm großzügig. Alles Lamentieren nützte nichts, er ging leer aus. Ja man überredete ihn sogar, das Ei mitzunehmen. Gewiß habe es magische Kräfte, heile Krankheiten, schütze gar vor Unheil und dem bösen Blick, versicherte man ihm. Überzeugen ließ sich Giesebert schließlich, als ihm vorgeschlagen wurde, man könne das Drachenei in die Fundamente einer Burg einbauen, um sie unbezwingbar zu machen. So kehrte Giesebert auf einem Eselskarren anstelle des vom Ungeheuer gefressenen Schlachtrosses heim, und mit einem riesigen Ei. Die Jungfrau nahm er selbstverständlich ebenfalls mit. Sie wurde seine Gemahlin, und Giesebert wünschte sich bald, er hätte sie dagelassen.
Burg Drachenstein wurde schließlich doch gebaut, auch wenn sich Giesebert das Geld nun von einem Wucherer beschaffen mußte. Das Lindwurmei, von einem wandernden Magier mit einem Schlafzauber versehen, diente als Grundstein. Dort blieb es und geriet in Vergessenheit. Ein Jahrtausend verging, und alle glaubten, die Geschichte sei zu Ende.
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