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Froschkönig

Es war eine mühselige und langweilige Routinearbeit, unter dem Mikroskop die Chromosomen auszuzählen und zu bestimmen.

‚Triploid Seefrosch – Seefrosch – Teichfrosch, Diploid Teichfrosch – Seefrosch …‘

Tim mußte sich zur Aufmerksamkeit zwingen. Es war schon später Abend, und er saß seit Mittag an dieser Arbeit. Seine Augen begannen zu schmerzen. Der nächste Objektträger. Wie war die Nummer?

‚Triploid Teichfrosch – Teichfrosch, nein, halt, Seefrosch – Seefrosch …‘

Was war das? Tim traute seinen Augen nicht mehr. Es waren sechsundvierzig Chromosomen, menschliche und nicht die eines Frosches. Welcher Witzbold hatte ihm diesen Streich gespielt und die Blutproben vertauscht? Er sah genauer hin. Zwei X-Chromosomen, weiblich also. Es konnte nur Tina gewesen sein.

Verärgert warf er den Objektträger in den Mülleimer und suchte den richtigen. Doch der war nirgends zu finden. Ein übler Verdacht keimte in ihm, und er holte das Präparat aus dem Abfall. Tatsächlich, es war die richtige Beschriftung, der richtige Objektträger. Tina mußte das Froschblut weggewischt haben.

Das wirklich ärgerliche war, daß er nach der Blutentnahme alle Frösche wieder in den Tümpel geworfen hatte. Es war eines der kleineren Gewässer gewesen, und für die Statistik kam es auf jede Probe an. Eigentlich mußte die ganze Serie wiederholt werden. Andererseits, wer außer ihm wußte schon, wie groß sie wirklich war? Tim hatte keine Lust mehr und ging wütend nach Hause.

Am nächsten Tag stellte er fest, daß Tina schon seit einer Woche nicht mehr im Labor gewesen war. Die Präparate hatte er erst vorgestern gemacht. Praktikanten hatte er derzeit keine. Wirklich rätselhaft. Tim würde wohl nie dahinterkommen, wer ihm diesen Streich gespielt hatte.

So setzte er sich wieder vor das Mikroskop, öffnete den Präparatekasten, um weiterzuarbeiten, und sah die Lücke. Richtig, der verdorbene Objektträger lag im Abfalleimer. Da gehörte er zweifelsohne hin, doch was machte Tim nun mit der Lücke? Die Gläser waren numeriert, Aufrücken galt nicht. Ob es jemand merken würde? Wohl kaum, aber schlafende Hunde soll man nicht wecken. Tim hatte sich erst kürzlich mit Professor Kleinschmidt gestritten, schlampige Arbeit hatte dieser ihm vorgeworfen. Ihm, Tim, der sich nun wirklich Mühe gab, dieses knifflige Thema sorgfältig zu bearbeiten! Es interessierte es ihn schließlich selbst brennend, wie die absurde Genetik der Grünfrösche wirklich aussah. Die Serie mußte wiederholt werden.

Die ganze Arbeit noch einmal, mußte das wirklich sein? Kam es auf diesen einen blöden Frosch wirklich an? Hauptsache war, daß der verräterische Zwischenraum verschwand, ansehen würde sich diesen Kram sowieso niemand mehr. Dann hatte die Entscheidung erst einmal Zeit.

Tim stand also wieder auf und ging zum Mülleimer. Geleert. Immer quoll er über, niemand kümmerte sich darum. Warum ausgerechnet heute? Er seufzte resigniert. Zumindest eine Blutprobe mußte er wiederholen, um das Fehlen der richtigen zu verbergen. Recht betrachtet war das sogar ein guter Kompromiß. Der betreffende Tümpel lag nur wenig abseits von Tims täglichem Weg zur Uni. Einen Frosch zu fangen, das brauchte nicht viel Zeit. Vielleicht wäre es sogar der richtige, aber auf jeden Fall wären es wieder vierundzwanzig Proben von vierundzwanzig Tieren. Das war die Lösung.

So packte er am Abend das Netz, Nadel, Antigerinnungsmittel und was er sonst noch brauchte auf den Gepäckträger seines Fahrrads. Als er am Tümpel vorbeikam, war es bereits viel zu spät, es dämmerte längst. Nebel stieg aus der Wiese und dem Wasser auf, der Mond leuchtete schon über der dunklen Silhouette des Waldes. Es war wirklich romantisch, eine fast märchenhafte Atmosphäre. Vielleicht deshalb schlich sich, als er nun gemächlich daran vorbeiradelte, ein völlig unwissenschaftlicher Gedanke in Tims Gehirn ein: Was wäre, wenn die Erzählung vom Froschkönig keine Kindergeschichte wäre? Wenn da drüben ein verwunschener Prinz, nein, es mußte ja eine Prinzessin sein, auf die Erlösung wartete?

Tim drehte sich noch einmal um, bevor der Weg ihn wieder zwischen die Gärten führte und das Märchen hinter ihm zurückblieb. Ja, schön wäre es, ein magischer Lichtblick in der Welt der Wissenschaft. Und er jagte Frösche, um ihnen Blutproben zu entnehmen. Einfach albern!

Als Tim zuhause ankam, griff er statt zu seinem halbgelesenen Krimi zu der alten, verstaubten und fast vergessenen Ausgabe von Grimms Märchen. Sein Traum in dieser Nacht entglitt seinem Gedächtnis, kaum das er erwacht war, aber Tim war sicher, daß eine Froschprinzessin darin vorgekommen war.

Auf dem Weg zur Universität machte Tim halt am ‚Biotop 15‘, wie es in seiner Arbeit sachlich und unpoetisch hieß. Ein Namen war in keiner Karte verzeichnet, dazu war diese Pfütze einfach zu unbedeutend. Er ließ das Fahrrad am Weg stehen und kämpfte sich durch nasses Gras und Morast zum Wasser. Noch bevor er es erreicht hatte, erklang ein vielfaches Platschen. Die Frösche sahen Tim einfach früher als er sie. Er fluchte, für den Zauber dieses Platzes hatte er so früh am Morgen keinen Sinn. Bei Licht betrachtet war es hier auch weniger zauberhaft als vielmehr sumpfig und schmutzig. Er spähte ins Schilf, entdeckte ein Opfer, spannte die Finger um den Stiel des Netzes und sah seine Beute im Wasser verschwinden. Aber hier, in den Wasserlinsen, da schauten zwei Augen hervor. Abgetaucht! Wieder und wieder erging es ihm so. Warum um alles in der Welt hatte er den Objektträger nur weggeworfen?

Nur wenige Schritte neben Tim hockte ein Frosch auf einer halb versunkenen Betonröhre und schien ihn zu beobachten. Warum hatte Tim ihn nicht gesehen? Vielleicht war es zu offensichtlich. Er erinnerte sich, daß es ihm schon beim letzten Mal so ergangen war. Ob es das selbe Tier war?

Das Netz schlug zu, und der Frosch war gefangen. Er zappelte verzweifelt, als Tim ihn festhielt und mit der Spritze vorsichtig Blut abzog. Dann ließ Tim los, und mit einem Sprung verschwand er im Wasser.

Einige Tage später, als das Präparat fertig war, hatte Tim den Froschkönig fast wieder vergessen. Die Serie war wieder vollständig, die Welt wieder in Ordnung, und Professor Kleinschmidt hatte nichts gemerkt. Nebenbei, zwischen Literaturarbeit und Mensapause schob Tim den Objektträger noch schnell unter das Mikroskop, um seine Liste zu vervollständigen.

Sechsundvierzig. Das durfte nicht wahr sein! Tim kontrollierte die Nummer, es war das Original, seine Handschrift. Aber diesmal hatte er einen zweiten Ausstrich gemacht. Sechsundvierzig! Versuchte jemand, seine Arbeit zu sabotieren? Unfug. Aber es war ein übler Streich, und beim zweiten Mal wirklich nicht mehr lustig. Tim grübelte vergeblich, wer es gewesen sein konnte. Es waren Semesterferien, Tina war im Urlaub, und sonst konnten nur Michael, Frederik und Uli ins Labor. Und Professor Kleinschmidt natürlich. Nur Männer, aber es war Frauenblut. Tim war ratlos.

Also eine verzauberte Prinzessin. Tim lachte. Wollte ihn jemand das glauben machen? Einfach albern. Er steckte das eine Präparat in den Kasten zu den anderen und warf das zweite weg. Die Serie war komplett, Klappe zu, Frosch tot, wie es so schön hieß. Und seine nächsten Proben würde er im Schrank einschließen.

Am Abend, als Tim an Biotop 15 vorbeikam, bremste er abrupt. Wieder lag Dunst über der Wiese, wieder schien dieser Platz zu einer anderen Welt zu gehören. Und wenn doch? Nein, das war eine schöne Träumerei, mehr nicht. Tim fuhr entschlossen weiter.

Das ernüchterne Licht des Morgens ließ Tim über diese Phantasterei lachen, aber auf dem Heimweg blieb er nun jedesmal am Tümpel stehen. Er träumte wieder und wieder von einer verwandelten Königstochter.

Niemand konnte die Blutproben vertauscht haben, das war unmöglich. Also blieb nur … Aber dieser Gedanke war einfach absurd! Es gab keinen Froschkönig, und auch keine Froschkönigin. Doch er hatte sich in Tims Gehirn festgesetzt.

So ging es über eine Woche hin und her. Dann hatte Tim genug davon. Mit dieser Spinnerei würde er sich noch in die Psychiatrie bringen. Er mußte sich einfach von der Unsinnigkeit dieses ganzen Hirngespinstes überzeugen. Tim nahm das Netz und ein kleines Plastikbecken mit und stoppte wie üblich an der Sumpfwiese.

Tatsächlich, ein einzelner Frosch saß an seinem Platz auf der Betonröhre, als seine Artgenossen längst die Flucht ergriffen hatten. Zufall, sagte sich Tim. Er sah ihn lange an, und es schien ihm, als erwiderten die goldenen Augen seinen Blick. Unfug! Tim würde ihn fangen und mitnehmen und untersuchen. Und erlösen?

Er zappelte nicht einmal im Netz. Tim nahm das Tier auf die Hand und schaute sich verstohlen um. Es war einfach eine alberne Situation. Aber niemand sah zu. Zögernd hob er den Frosch an seinen Mund, dann küßte er ihn entschlossen.

Für einen Moment wurde ihm schwindelig. Er wollte sich an einem Baumstamm abzustützen, aber seine Hand verfehlte ihr Ziel. Die Welt schien sich zu drehen.

Grün. Alles vor ihm war grün. Erst als Tim sich bewegte, konnte er Strukturen erkennen. Was war das? Er versuchte, sich zu konzentrieren. War das Gras? Aber es war zu groß , es überragte ihn bei weitem. Er konnte den Gedanken nicht festhalten. Da, eine Bewegung! Unwillkürlich drehte er sich danach um und hüpfte hinter dem fetten Käfer her.

Diese Geschichte ist bereits in der Zeitschrift Saarländisches Kulturjournal (5/1995) erschienen.

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