Elfen machen nichts als Ärger
Wütend humpelte Brunhild den Hügel herunter. Als sie den Weg erreichte, blickte sie sich mißtrauisch um. Niemand war in der Nähe. Gut. Sie war dem Tode nah, und schuld daran war ihr eigener Leichtsinn gewesen. Gerade rechtzeitig hatte sie noch gemerkt, daß sie an eine Mörderin geraten war, aber der Kampf hätte sie fast das Leben gekostet. Ein Punkt Lebenskraft war ihr geblieben, und wenn sie den nicht verlieren wollte, mußte sie sich für heute aus dem Spiel zurückziehen. Gut, daß es ohnehin bereits abend war.
„Und wer oder was bist du?“ fragte eine Stimme hinter ihr.
Erschrocken fuhr Brunhild, deren bürgerliche Name hier nichts zur Sache tut, herum. Sie hatte die Hand schon an den Schwertknauf gelegt, aber es war offensichtlich nur ein harmloser Spaziergänger, ein blonder Jüngling mit Jeans und kariertem Hemd. Brunhild dagegen, mit Lederhose, Felljacke, bronzenem Stirnreif und rostigem Langschwert mußte auf ihn wie ein Wesen aus einer anderen Zeit wirken.
„Bist du auch eine von den Zwergen und Elfen, die hier arme Wanderer erschrecken?“ wollte er wissen.
„Ja.“ Sie war erleichtert. „Gestatten, Brunhild, Abenteurerin. Aber ein Mensch, Elfen kann ich nämlich nicht leiden.“
„Oh.“ Er runzelte mißbilligend die Stirn. „Warum nicht?“
„Sie sind arrogant und machen nichts als Ärger.“
Der Junge brach unvermittelt in heftiges Gelächter aus. „Dann wirst du wohl recht haben!“ sagte er, als er sich wieder beruhigt hatte. Sichtlich amüsiert schüttelte er den Kopf, wandte er sich um und ging weiter.
Brunhild machte sich wieder auf den Weg zum Zeltplatz. Es dämmerte bereits, und sie wollte ihn vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Schon wieder machte der Pfad eine unvorhergesehene Biegung nach rechts. Sie mußte sich links halten, also lief sie nun wieder quer durch den Wald. Warum hatte sie den Bach noch nicht gefunden? Sie beschleunigte ihre Schritte.
Bald mußte sie sich eingestehen, daß sie sich verirrt hatte. Längst hätte sie die Wiese erreichen müssen. Schon beleuchtete der Vollmond den Pfad vor ihr. War sie so lange unterwegs? Sie fluchte.
„Nanu, du schon wieder, stolze Brunhild?“
Wieder war es ihm gelungen, sie zu erschrecken. Der Junge saß auf einem umgestürzten Baum neben dem Trampelpfad. Hätte er sie nicht angesprochen, hätte sie ihn wohl kaum bemerkt.
„Ach, du schon wieder!“ entgegnete sie. „Kannst du mir zeigen, wie ich aus diesem blöden Wald komme?“ Brunhild seufzte kleinlaut. „Ich habe mich nämlich verlaufen.“
„Die große Kriegerin, verirrt?“ spottete er. „Dachte ich mir. Komm mit.“
Er sprang auf und lief quer durchs Unterholz. Brunhild folgte ihm, auch wenn es nicht leicht war, Schritt zu halten. Bald lockerte sich das Dickicht, sie erreichten einen mit lodernden Fackeln markierten Weg, und dann öffnete sich der Wald. Doch es war nicht das ersehnte Camp der Rollenspieler, sondern nur eine weite Lichtung. Aber in der Mitte brannte ein Feuer, und jedes Zeichen von Zivilisation war Brunhild recht.
„Euer Lager ist auf der anderen Seite des Berges. Aber ich hoffe, es macht dir nichts aus, hier mit uns zu feiern?“
Die müde Abenteurerin zuckte mit den Schultern. Im Moment war ihr alles egal. Vom Lagerfeuer wehte der Duft von Gebratenem herüber, und irgend jemand spielte auf einer Harfe. Es paßte ja sogar zum Spiel, und Brunhild lächelte wieder. Sie nahm im Kreis der anderen Platz, und jemand reichte ihr eine knusprige Kaninchenkeule.
Brunhild kaute zufrieden und blickte sich um. Offensichtlich waren ihre Gastgeber keine Fantasyspieler. Alle waren junge Leute, sie trugen Alltagskleidung, und es gab hier keine Schwerter außer ihrem eigenen. Ebenso offensichtlich aber verstanden sie zu Feiern. Die Stimmung war ausgelassen, überall wurde gelacht. Ein Mädchen, das neben ihr saß, verwickelte sie ins Gespräch, in ein banales zwar, aber schnell war Brunhild von der guten Laune der anderen angesteckt. Längst hatte man ihr das Trinkhorn mit Met gefüllt, und sobald es leer zu werden drohte, bekam sie nachgeschenkt. Der Alkohol begann, ihr zu Kopf zu steigen, aber sie winkte vergeblich ab, als wieder jemand mit einem Schlauch voll Honigwein vor ihr stand. Tatsächlich, es war ein Weinschlauch, und jetzt erst fiel ihr auf, daß auch die anderen aus Hörnern tranken. Jemand prostete ihr zu, und das lenkte sie ab.
Rhythmische Trommelklänge lösten die Harfenakkorde ab, und die ersten Gäste begannen, um das Feuer zu tanzen. Die Gewänder der Tänzer flatterten vor den Flammen, und jemand fing an, mit heller, klarer Stimme zu singen. Brunhild verstand die Worte nicht, aber das machte nichts. Der immer wildere Rhythmus war mitreißend, ja fast hypnotisch. Schade, daß ihr die Füße weh taten.
„Was feiert ihr eigentlich?“ fragte sie ihre Nachbarin. Nun bemerkte sie, daß auch diese ein lockeres weißes Gewand trug. Hatte sie nicht eben noch Jeans und Bluse getragen?
„Beltane. Es ist der erste Vollmond im Mai.“ Heiden also. Das erklärte wohl alles. Das Mädchen stand auf, um sich den Tanzenden anzuschließen. Sie schüttelte ihre langen blonden Haare nach hinten, und für einen Augenblick glaubte Brunhild, spitze Ohren darunter zu erkennen. Der Alkohol spielte ihr wohl schon die ersten Streiche. Aber warum waren hier eigentlich alle blond?
Nachdenklich starrte Brunhild in die Glut und nahm einen neuen Schluck Met. Das Horn wurde einfach nicht leer. Die Zeit verging, und der Mond begann bereits, wieder zu sinken. Die Gespräche der anderen schienen an ihr vorbeizurauschen. Merkwürdig, daß sie noch nicht einmal einen Fetzen einer Unterhaltung aufgeschnappt hatte. Tatsächlich, auch wenn sie lauschte, verstand Brunhild nichts. In welcher Sprache redeten sie untereinander?
Langsam begann dieses Fest, ihr unheimlich zu werden. Niemand trug mehr Alltagskleidung, und in dem wilden Reigen, der das Feuer umkreiste, glaubte sie, merkwürdige Gestalten zu erkennen. Waren das Kinder? Nein, sie waren zwar klein und dürr, aber sie waren keine Kinder.
„Nun, edle Brunhild, amüsiert ihr euch?&lsqu; Sie fuhr erschrocken herum. Hinter ihr stand ihr Führer, der sie hier her gebracht hatte. „Wer seid ihr?“
„Gestatten, Albin. Ich bin arrogant und mache nichts als Ärger!“
Brunhild sah ihn irritiert an. Dann erst fiel ihr auf, daß er sie zitierte.
Als Albin sah, daß sie verstanden hatte, brach er in wildes Gelächter aus. „Eine gute Überraschung, nicht wahr?“ Er bog sich vor Lachen. „Und du hast wahrscheinlich nicht einmal an uns geglaubt! Herrlich!“
Die Abenteurerin war ratlos. Das mußte ein Scherz sein. Doch sie spürte, daß er es ernst meinte. Brunhild schaute sich um, blickte in die Gesichter. Natürlich waren es Elfen, wie hatte sie sie für Menschen halten können? Welchen Zauber hatte man über sie verhängt? „Bitte, bring mich zurück.“ Ihre Stimme zitterte.
Albin hörte auf, zu kichern. „Jetzt schon? Mitten im Fest? Du mußt noch bleiben!“
„Bitte!“ Aus den Augenwinkeln versuchte sie, den Pfad zu erspähen, über den sie gekommen waren. Verstohlen tastete Brunhild nach ihrem Schwert. Es war verschwunden.
Dem Elf entging das nicht, und sein Gesicht verfinsterte sich. „Kennst du die Geschichte von Rip van Winkle? Er war auch unser Gast, und ein wirklich netter Kerl. Schade, daß er nach Hause gegangen ist. Als er ankam und seine Enkel als Greise sah, zerfiel er einfach zu Staub. Er hätte bei uns bleiben sollen.“
Die Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht. Brunhild geriet in Panik.
„Bleib ruhig noch ein wenig“, fuhr Albin lächelnd fort. „Was macht schon ein Jahrhundert mehr oder weniger? Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.“
Wie versteinert stand Brunhild da. Sie zweifelte nicht an seinen Worten. Man hatte sie verzaubert, und sie war verloren. In trübe Gedanken versunken saß sie am Feuer und war der Verzweiflung nahe. Welche Welt würde sie am nächsten Morgen vorfinden? Würde man sich noch an sie erinnern?
„Laß dir von Albin keine Angst machen, er ist ein Witzbold“, versuchte eine freundliche Elfe sie zu trösten. „Tanz einfach mit uns, und wenn die Sonne aufgeht, ist alles in Ordnung.“
Brunhild hatte sich schließlich ihrem Schicksal ergeben, denn eine andere Möglichkeit blieb ihr ohnehin nicht. Resigniert erwartete sie den Morgen, trank reichlich vom Met und schlief schließlich ein.
Als sie erwachte, stand die Sonne bereits am Himmel. Sie hatte Kopfschmerzen, und nur langsam erinnerte sie sich, wo sie sich befand. Hatte sie geträumt? Mit schmerzenden Gliedern stand sie auf und sah sich um. Die Glut war erloschen, und die Lichtung war leer. Neben ihr lag das Schwert. Sie bückte sich und hob es auf.
„Guten Morgen!“ sagte eine Stimme hinter ihr.
Erschrocken drehte sich Brunhild um. Hinter ihr stand die Elfe, mit der sie am Abend gesprochen hatte. Oder das Mädchen? Sie trug blaue Jeans und eine weiße Bluse. Nichts an ihr war auffällig. An einem Baum in der Nähe lehnte ein Fahrrad.
„Komm, ich zeige dir den Weg.“ Sie lächelte. „Du hast gestern wirklich kräftig gebechert. Geht es dir gut?“
Brunhild schüttelte den Kopf und bereute gleich darauf die heftige Bewegung. Schweigend folgte sie ihrer Führerin über die Wiese und in den Wald, entlang eines noch mit niedergebrannten Fackeln markierten Pfades, bis sie endlich an einen breiten Weg gelangten. Tiefe Wagenspuren zeugten von menschlicher Zivilisation.
Ihre Begleiterin hielt inne. „Ich muß zurück, aber du wirst dich jetzt ja zurechtfinden. Komm ruhig einmal wieder!“ Dann schloß sie die überraschte Abenteurerin in die Arme und küßte sie auf die Stirn. Für einen Augenblick meinte Brunhild, ein leichtes Brennen zu spüren. „Tschüß!“ Im Nu war sie zwischen den Bäumen verschwunden.
Brunhild sah ihr nach, konnte sie aber nicht mehr entdecken. Noch immer etwas durcheinander, entschloß sie sich, nach links zu gehen. Eine Richtung war so gut wie die andere, sie hatte keine Orientierung. Immerhin waren die Kopfschmerzen seit dem Abschiedskuß spurlos verflogen. War das Zauberei? Brunhild wußte nicht, was sie denken sollte. Es war absurd, sie mußte geträumt haben. Was würde sie am Waldrand erwarten?
Jemand kam ihr entgegen, und sie versteckte sich. Es war eine hünenhafte Gestalt, mit dunkelgrünem Umhang, Fellstiefeln und einer Keule.
„Roderich!“ Brunhild jubelte fast vor Freude, als sie ihn erkannte. Er war ein Rollenspieler wie sie.
„Da bist du ja!“ begrüßte er sie mit sichtlicher Erleichterung. „Wir haben schon die ganze Gegend nach dir abgesucht. Du hast dich wohl verlaufen, das Camp ist hinter dir.“
Gemeinsam machten sie kehrt, und bald erreichten sie die Abzweigung zur Lichtung. Brunhild blieb stehen und schaute sich noch einmal um. Noch immer konnte sie sich keinen Reim auf die Erlebnisse der letzten Nacht machen. Ein Kichern drang aus dem Dickicht. Oder war es der Wind, der in den Blättern rauschte?
„Sag mal, Roderich, wohin führt dieser Weg eigentlich?“
„Welcher Weg?“ Er blickte sie fragend an.
„Da, der Trampelpfad, an dem noch die Fackeln stehen.“ Sie deutete den Pfad entlang.
„Was für Fackeln, welcher Weg?“ Roderich schüttelte ratlos den Kopf.
Brunhild starrte ihn an. Sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel, daß er wirklich nichts sah. Schweigend drehte sie sich um und ging weiter.
Elfen waren wirklich arrogant, und sie machten nichts als Ärger.
Diese Geschichte ist bereits unter dem Titel ‚Brunhild‘ in der Zeitschrift Saarländisches Kulturjournal (4/95) und in der SF-Zeitschrift Alien Contact (Nr. 31, 1998) erschienen.

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